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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0704
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Stellenkommentar DD Feuerzeichen, KSA 6, S. 393 681

In einer Vorstufe, die KSA 14, 516 mitteilt, lautete 393, 8-12: „die Flamme
mit weißgrauem Bauche, die / ihren Hals nach immer reineren Höhen biegt, /
begehrlich lodernd in kalten Fernen / meine Schlange gerad aufgerichtet vor
Ungeduld / : dies Zeichen stellte ich mir-auf-hohen-Bergen vor mich auf".
393, 13-22 Meine Seele selber ist diese Flamme, / unersättlich nach neuen Fer-
nen / lodert aufwärts, aufwärts ihre stille Gluth. / Was floh Zarathustra vor Thier
und Menschen? / Was entlief er jäh allem festen Lande? / Sechs Einsamkeiten
kennt er schon —, / aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam, / die Insel
liess ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme, / nach einer siebenten
Einsamkeit / wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt.] Dazu teilt KSA 14,
516 f. folgende Vorstufe mit: „Was floh ich Zarathustra vor den Menschen — /
Was entlief ich er allem festen Lande? / Nach neuen Einsamkeiten / warf ich
er suchend, suchend, die Angel über sein Haupt / kein Meer selbst war genug
war ihm genug einsam: / die Insel selbst trieb mich auf den Berg / auf dem
Berg noch war ich Flamme / hier lodre ich Zarathustra als stille Gluth". Auf-
schlussreich ist in den verschiedenen Fassungen der stete Wechsel zwischen
dritter und erster Person, zwischen Zarathustra und lyrischem Ich.
393, 21 f. nach einer siebenten Einsamkeit / wirft er suchend jetzt die Angel
über sein Haupt] Zum Motiv der sieben Einsamkeiten siehe NK KSA 6, 167, 17 f.
Da vorher von „Sechs Einsamkeiten" (393, 18) die Rede ist, handelt es sich
um eine Anspielung auf die biblische Schöpfungsgeschichte, in der Gott an
sechs Tagen sein Schöpfungswerk vollbringt und, nachdem er alles für gut
befunden hat (Genesis 1, 31: „Und GOtt sähe an alles, was er gemacht hatte;
und siehe da, es war sehr gut" — Die Bibel: Altes Testament 1818, 2), am
siebten Tag davon ausruht (Genesis 2, 2: „Und also vollendete GOtt am sieben-
ten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen
seinen Werken, die er machte." Die Bibel: Altes Testament 1818, 2). Dement-
sprechend ersehnt das sprechende Ich, das hier in der Rolle Zarathustras die
Er-Form annimmt, bevor es am Ende wieder als Ich hervortritt (394, 3-6), mit
dem Wunsch nach einer „siebenten Einsamkeit" eine gottgleiche Vollen-
dungsruhe. Zugleich wird dieser Wunsch als ein Streben nach dem Unmögli-
chen inszeniert: In paradoxaler Zuspitzung wirft „er suchend jetzt die Angel
über sein Haupt". Die letzten Verse überschreiten die Schwelle vom Paradox
eines „Fischers auf hohen Bergen" (394, 5), das N. schon in Za IV Das Honig-
Opfer formuliert (KSA 4, 297, 28-32; 298, 27-31), zur Gedankenfigur des Adyna-
ton, die das Unmögliche metaphorisch zum Ausdruck bringt: „fangt mir, dem
Fischer auf hohen Bergen, / meine siebente letzte Einsamkeit! -" (394,
5 f.) Der folgende sechste Dithyrambus: Die Sonne sinkt dementiert das Unter-
nehmen, durch ungeduldiges Suchen die „siebente Einsamkeit" der Vollen-
 
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