686 Dionysos-Dithyramben
Dionysos, der Jäger, ist zugleich die Allegorie einer Denk-Obsession. Schon
im ersten Abschnitt machen dies die Worte deutlich: „von dir gejagt,
Gedanke!" (398, 9), und es ist Kälte des Denkens, welche im vorangehenden
Vers metaphorisiert wird in dem Bild von den „eisigen Frostpfeilen" (398, 8)
und die Projektionsfigur Ariadne schon ganz zu Beginn ausrufen lässt: „Wer
wärmt mich, wer liebt mich noch? / Gebt heisse Hände! / gebt Herzens-Kohlen-
becken!" (398, 2-4).
Es ist aufschlussreich, dass in Za IV Der Zauberer (KSA 4, 313-317) zwar
der Text, der später in die Dionysos-Dithyramben unter dem Titel Klage der
Ariadne übernommen wurde, schon vorliegt, aber mit einem wesentlichen
Unterschied: Dort ist das klagende Ich noch eine männliche Figur, die N. im
einleitenden Prosatext als „zitternden alten Mann" einführt und nach dem
Ende der Verse (zu denen noch nicht die nach dem dreifachen Asteriscus ste-
henden Reime gehören) von Zarathustra als bloßer „Schauspieler" und
„Falschmünzer" verprügelt wird. Auch die Antwort des Dionysos, die mit den
Worten endet: „Ich bin dein Labyrinth..." (KSA 6, 401, 25), fehlte in Za
IV noch. In der Za-Fassung des Gedichts wird der Anschein erweckt, als ob
der Zauberer in Gestalt des grausamen „unbekannten Gottes", des „Henker-
Gottes" den christlichen Gott von sich stieße und zugleich zurück wünschte,
und er deswegen von Zarathustra gescholten würde.
In KSA 14, 333 f. ist auch eine Vorstufe zu dem ursprünglich aus dem Herbst
1884 stammenden Gedicht abgedruckt, das da noch „Der Dichter. — Die Qual
des Schaffenden" betitelt war. Zum zeitgenössischen Hysterie-Diskurs, den der
Wechsel von dieser männlichen Figur zu Ariadne nahelegt, und zu den für N.
einschlägigen französischen Quellen vgl. z. B. NK KSA 6, 22, 26-30 u. Lampl
1986.
Die Klage der Ariadne fällt durch ihre intensive Theatralisierung auf. Zu
dieser gehört die expressive Dialogisierung, die Einbeziehung stark mimeti-
scher Elemente, die an eine Sonderart des griechischen Dithyrambos, den sog.
,mimetischen Dithyrambos' erinnert (den N. schon in seiner Vorlesung über
die griechischen Lyriker von 1869 behandelt hatte), endlich die bis zu einer
Regie-Anweisung gehende direkte Montage eines Theater-Effekts (in der
Erscheinung des Dionysos). Zur Interpretation vgl. z. B. Reinhardt 1935/1960,
Del Caro 1988, Theisen 1991 u. Deuber-Mankowsky 2002.
398, 1 Klage der Ariadne.] Im Druckmanuskript korrigiert aus: „Ungeliebt...
(Lied der Ariadne)" (KSA 14, 517 u. Groddeck 1991, 1, Tafel 123).
398, 18 von dir, grausamster Jäger] Vgl. 400, 7: „grausamster Jäger". Schon in
GT 10 hebt N. im Hinblick auf den Mythos von Dionysos Zagreus die Grausam-
keit hervor: „In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppel-
Dionysos, der Jäger, ist zugleich die Allegorie einer Denk-Obsession. Schon
im ersten Abschnitt machen dies die Worte deutlich: „von dir gejagt,
Gedanke!" (398, 9), und es ist Kälte des Denkens, welche im vorangehenden
Vers metaphorisiert wird in dem Bild von den „eisigen Frostpfeilen" (398, 8)
und die Projektionsfigur Ariadne schon ganz zu Beginn ausrufen lässt: „Wer
wärmt mich, wer liebt mich noch? / Gebt heisse Hände! / gebt Herzens-Kohlen-
becken!" (398, 2-4).
Es ist aufschlussreich, dass in Za IV Der Zauberer (KSA 4, 313-317) zwar
der Text, der später in die Dionysos-Dithyramben unter dem Titel Klage der
Ariadne übernommen wurde, schon vorliegt, aber mit einem wesentlichen
Unterschied: Dort ist das klagende Ich noch eine männliche Figur, die N. im
einleitenden Prosatext als „zitternden alten Mann" einführt und nach dem
Ende der Verse (zu denen noch nicht die nach dem dreifachen Asteriscus ste-
henden Reime gehören) von Zarathustra als bloßer „Schauspieler" und
„Falschmünzer" verprügelt wird. Auch die Antwort des Dionysos, die mit den
Worten endet: „Ich bin dein Labyrinth..." (KSA 6, 401, 25), fehlte in Za
IV noch. In der Za-Fassung des Gedichts wird der Anschein erweckt, als ob
der Zauberer in Gestalt des grausamen „unbekannten Gottes", des „Henker-
Gottes" den christlichen Gott von sich stieße und zugleich zurück wünschte,
und er deswegen von Zarathustra gescholten würde.
In KSA 14, 333 f. ist auch eine Vorstufe zu dem ursprünglich aus dem Herbst
1884 stammenden Gedicht abgedruckt, das da noch „Der Dichter. — Die Qual
des Schaffenden" betitelt war. Zum zeitgenössischen Hysterie-Diskurs, den der
Wechsel von dieser männlichen Figur zu Ariadne nahelegt, und zu den für N.
einschlägigen französischen Quellen vgl. z. B. NK KSA 6, 22, 26-30 u. Lampl
1986.
Die Klage der Ariadne fällt durch ihre intensive Theatralisierung auf. Zu
dieser gehört die expressive Dialogisierung, die Einbeziehung stark mimeti-
scher Elemente, die an eine Sonderart des griechischen Dithyrambos, den sog.
,mimetischen Dithyrambos' erinnert (den N. schon in seiner Vorlesung über
die griechischen Lyriker von 1869 behandelt hatte), endlich die bis zu einer
Regie-Anweisung gehende direkte Montage eines Theater-Effekts (in der
Erscheinung des Dionysos). Zur Interpretation vgl. z. B. Reinhardt 1935/1960,
Del Caro 1988, Theisen 1991 u. Deuber-Mankowsky 2002.
398, 1 Klage der Ariadne.] Im Druckmanuskript korrigiert aus: „Ungeliebt...
(Lied der Ariadne)" (KSA 14, 517 u. Groddeck 1991, 1, Tafel 123).
398, 18 von dir, grausamster Jäger] Vgl. 400, 7: „grausamster Jäger". Schon in
GT 10 hebt N. im Hinblick auf den Mythos von Dionysos Zagreus die Grausam-
keit hervor: „In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppel-