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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0763
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740 Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen

wirklichen und populären Verbreitung meiner Opern sie fast in der ganzen
europäischen Presse, sobald mein Name erwähnt wird, sofort als ebenso unan-
gefochten wie unwiderlegbar, mit stets neu verjüngter Kraft, auftritt." (Wagner
1907, 8, 242 f.) Etwas anders rekonstruierte Wagner die Herkunft des Wortes in
Mein Leben: „Namentlich faßte er [sc. Theodor Uhlig] sogleich einen Hauptgeg-
ner, den von Ferdinand Hiller in Köln geworbenen Herrn Bischoff, welcher für
mich und meine Freunde die Bezeichnung ,Zukunftsmusiker' erfunden hatte,
scharf in das Auge und geriet mit ihm in eine länger andauernde, ziemlich
ergötzliche Polemik. Die Grundlage des bis zum europäischen Skandal allmäh-
lich angewachsenen Problems der sogenannten ,Zukunftsmusik', eine Bezeich-
nung, welche Liszt sehr bald mit guter und stolzer Laune akzeptierte, war nun
gelegt. Wohl hatte ich durch den Titel meines Buches ,Kunstwerk der Zukunft'
zu jener Erfindung die eigentliche Veranlassung gegeben: zum völligen
Schlachtruf ward die Bezeichnung jedoch erst erhoben, seitdem ,Das Judentum
in der Musik' alle Schleusen der Wut über mich und meine Freunde geöffnet
hatte." (Wagner 1977, 480) Wagner gab selbst also unterschiedliche Genealo-
gien des Wortes „Zukunftsmusik", erstens als Reaktion auf Oper und Drama
(1852), zweitens als Reaktion auf Das Judenthum in der Musik, und drittens als
Reaktion auf Das Kunstwerk der Zukunft (1850).
Entscheidend — gerade im Blick auf N.s eigenen, strukturanalogen Umwer-
tungsgestus — ist aber, dass Wagner sich das ursprünglich abwertend gemeinte
Wort als positive Selbstcharakterisierung zu eigen machte: „Wenn wir mit Sinn
und Verstand, dem Geiste unserer Sprache gemäß, zwei Substantive zu einem
Worte verbinden, so bezeichnen wir mit dem vorangestellten jedesmal in
irgend welcher Weise den Zweck des nachfolgenden, so daß ,Zukunftsmusik',
obwohl eine Erfindung zu meiner Verhöhnung, dennoch als: Musik für die
Zukunft, einen Sinn hatte." (Wagner 1907, 9, 302) „Was nämlich unsere nicht
immer sehr geistvollen Witzlinge bisher unter dem unsinnigen Begriffe einer
,Zukunftsmusik' zu ihrer Belustigung sich auftischten, das hat jetzt seine
nebelhafte Gestalt verändert, und ist auf festem Grunde und Boden zu einem
wirklich gemauerten ,Bayreuth' geworden." (Wagner 1907, 9, 331) Weitere ein-
schlägige Stellen aus Wagners Werken sind beispielsweise in Carl Friedrich
Glasenapps und Heinrich von Steins Wagner-Lexikon abgedruckt, das N. besaß
(Glasenapp / Stein 1883, 928 f.), ferner eine historische Begriffsgenealogie in
Wilhelm Tapperts Wagner-Lexicon (Tappert 1877, 45-48). Wagner legte selbst
1860 mit der Schrift Zukunftsmusik. Brief an einen französischen Freund (Wag-
ner 1871-1873, 7, 121-180 = Wagner 1907, 7, 87-137) ein emphatisches Selbstbe-
kenntnis als Zukunftsmusiker ab. Freilich notiert Gregor-Dellin 1980, 876,
Anm. 121 zur Wortgeschichte von „Zukunftsmusik", Wagner habe sie bewusst
verzeichnet: „Ludwig Bischoff verwendete den Ausdruck erst 1859 in Nr. 1 der
 
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