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Paul EensT:
oder Abstoßung als Gleichnis gebraucht für körperliche Zustände,
während umgekehrt Goethe in den Wahlverwandtschaften ausdrücklich
die chemische Affinität als Symbol für seelische Regungen verwendet,
also gleichsam ein Abbild des chemischen Aktes aus dem menschlichen
Leben vorführt. Chemische Verwandtschaft ist seit Boyle und Newton
ein geläufiger Begriff. Verfolgen wir auf Querschnitten durch die Jahr-
hunderte gleichsam auf einem Längsbündel, was aus den vier Elementen
des Empedokles geworden ist, denn alle wahren Ansichten und alle Irr-
tümer wiederholen sich.
Schon ein halbes Jahrhundert später ist die Lehre in der Hand des
Hippokrates in ihrer Beziehung zum Menschen und zur Krankheit
verändert. Statt der Grundstoffe finden wir die Körperflüssig-
keiten, die Kardinalsäfte, die Vierzahl ist unter der Macht der
Zahlensymbolik geblieben, denn Tetraktys ist als erste
Quadrat- und Wurzelzahl bei den Pythagoräern Wurzel und Quelle
9,11er Dinge. Die Fluida haben über die Solida gesiegt in Vorahnung
des Satzes: Corpora non agunt nisi fluida. Diese Humores sind das
feucht-warme Blut, der kalt-feuchte Schleim, die warm-trockene
gelbe Galle, die kalt-trockene schwarze Galle.
Das Blut hat seinen Sitz im Herzen, der Schleim wird vom Gehirn
abgesondert und durch die Löcher des Siebbeins entleert, fließt durch die
Nase herab (xara^eQ, was im Wort „Katarrh“ noch fortlebt, die gelbe
Galle, die man vom Erbrochenen kannte, wird von der Leber aus-
geschieden, die schwarze Galle, die man aus schwarzen, d. h. blutigen
Entleerungen des Darmes oder vom Blutbrechen kannte, oder zu kennen
glaubte, stammt aus der Milz. Die. Viersäftetheorie erkennen wir noch
in der Bezeichnung der 4 Temperamente, die wiederum Beziehungen zu
Konstitutionen haben: der warm- oder heißblütige Sanguiniker,
der kalte, schleimige Phlegmatiker, der gallige, gereizte Choleriker,
der düstere, gehemmte Melancholiker mit Hypochondrie und Spleen,
die beide auf die Milz hindeuten. In Lessings Nathan sagt der Kloster-
bruder unter den Dattelpalmen zum Tempelherrn: „Nehm’ sich der
Herr in Acht vor dieser Frucht, zu viel genossen, taugt sie nicht, ver-
stopft die Milz, macht melancholisches Geblüt.“ In Schillers Räubern
sagt Franz Moor zum Pastor Moser: „Willst du, daß ich deinen schwarz-
lebrigen Grillen zu Gebote steh’ ?!“ (schwarzlebrig statt schwarzgallig,
was sich freilich auf die Milz beziehen müßte). Und in der Homunkulus-
Szene will Mephisto aus „vielhundert Stoffen durch Mischung — denn
auf Mischung kommt es an ■— den Menschenstoff gemächlich kompo-
nieren“. Die richtige Mischung der Säfte, die Eukrasis bedingt Gesund-
heit, Harmonie, Gleichgewicht, die fehlerhafte Mischung, Dyskrasia
Paul EensT:
oder Abstoßung als Gleichnis gebraucht für körperliche Zustände,
während umgekehrt Goethe in den Wahlverwandtschaften ausdrücklich
die chemische Affinität als Symbol für seelische Regungen verwendet,
also gleichsam ein Abbild des chemischen Aktes aus dem menschlichen
Leben vorführt. Chemische Verwandtschaft ist seit Boyle und Newton
ein geläufiger Begriff. Verfolgen wir auf Querschnitten durch die Jahr-
hunderte gleichsam auf einem Längsbündel, was aus den vier Elementen
des Empedokles geworden ist, denn alle wahren Ansichten und alle Irr-
tümer wiederholen sich.
Schon ein halbes Jahrhundert später ist die Lehre in der Hand des
Hippokrates in ihrer Beziehung zum Menschen und zur Krankheit
verändert. Statt der Grundstoffe finden wir die Körperflüssig-
keiten, die Kardinalsäfte, die Vierzahl ist unter der Macht der
Zahlensymbolik geblieben, denn Tetraktys ist als erste
Quadrat- und Wurzelzahl bei den Pythagoräern Wurzel und Quelle
9,11er Dinge. Die Fluida haben über die Solida gesiegt in Vorahnung
des Satzes: Corpora non agunt nisi fluida. Diese Humores sind das
feucht-warme Blut, der kalt-feuchte Schleim, die warm-trockene
gelbe Galle, die kalt-trockene schwarze Galle.
Das Blut hat seinen Sitz im Herzen, der Schleim wird vom Gehirn
abgesondert und durch die Löcher des Siebbeins entleert, fließt durch die
Nase herab (xara^eQ, was im Wort „Katarrh“ noch fortlebt, die gelbe
Galle, die man vom Erbrochenen kannte, wird von der Leber aus-
geschieden, die schwarze Galle, die man aus schwarzen, d. h. blutigen
Entleerungen des Darmes oder vom Blutbrechen kannte, oder zu kennen
glaubte, stammt aus der Milz. Die. Viersäftetheorie erkennen wir noch
in der Bezeichnung der 4 Temperamente, die wiederum Beziehungen zu
Konstitutionen haben: der warm- oder heißblütige Sanguiniker,
der kalte, schleimige Phlegmatiker, der gallige, gereizte Choleriker,
der düstere, gehemmte Melancholiker mit Hypochondrie und Spleen,
die beide auf die Milz hindeuten. In Lessings Nathan sagt der Kloster-
bruder unter den Dattelpalmen zum Tempelherrn: „Nehm’ sich der
Herr in Acht vor dieser Frucht, zu viel genossen, taugt sie nicht, ver-
stopft die Milz, macht melancholisches Geblüt.“ In Schillers Räubern
sagt Franz Moor zum Pastor Moser: „Willst du, daß ich deinen schwarz-
lebrigen Grillen zu Gebote steh’ ?!“ (schwarzlebrig statt schwarzgallig,
was sich freilich auf die Milz beziehen müßte). Und in der Homunkulus-
Szene will Mephisto aus „vielhundert Stoffen durch Mischung — denn
auf Mischung kommt es an ■— den Menschenstoff gemächlich kompo-
nieren“. Die richtige Mischung der Säfte, die Eukrasis bedingt Gesund-
heit, Harmonie, Gleichgewicht, die fehlerhafte Mischung, Dyskrasia