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Ernst, Paul; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1928, 12. Abhandlung): Wurzeln der Medizin: Festrede ... am 10. Juni 1928 — Berlin, Leipzig, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.43554#0005
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Wurzeln der Medizin.

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verheißt Krankheit, Störung des Gleichgewichts, Disharmonie. In der
Dyskrasia ist der Körper zu warm oder zu kalt, zu trocken oder zu
feucht, eine Vorstellung, die dem theoretischen und praktischen Bedürfnis
des Arztes entgegenkam.
Wenn das aber gleichsam das Bekenntnis des großen Hippokrates
war, des größten Künstlers und Empirikers, der uns durch Bier, Much
und Sack wieder vertraut geworden, so ging dieses theoretische Bedürfnis
so nebenher, denn eine größere Harmlosigkeit Hypothesen gegenüber
kann man sich eigentlich nicht denken, als seinen Ausspruch: „Wenn
andere bessere Erklärungen geben können, ist mir’s recht, bei solchen
Anlässen zeigt man nur die Fertigkeit seiner Zunge“ oder das andere
Wort: „Was nützt es, all die vielschneidigen Lehren der Dogmatiker
zu kennen, anstatt in der Ausübung der ärztlichen Kunst am Kranken-
bett sicher zu sein!“
Im 2. christlichen Jahrhundert treffen wir in Rom Galenos aus
Pergamon, der das Wissen seiner Zeit umfaßt, ein Polyhistor, Compilator,
scharfsinniger Kritiker, Systematiker, also ungefähr alles das, was
Hippokrates verschmähte. Sein System gibt der Medizin an Stelle der
Anarchie eine neue Richtschnur, die 1% Jahrtausende festhielt, denn
in dieser langen Zeit bestand die Tätigkeit der wissenschaftlichen Medizin
in der philologischen Interpretation des Galen. Dieses eklektische System
faßt die 4 Kardinalsäfte mit ihren Elementarqualitäten zusammen zur
Humoralpathologie. Gesundheit ist ihm Harmonie und Sympathie
der Teile, der Säfte und Kräfte, Krankheit ist bedingt durch wider-
natürliche Verhältnisse und zwischen beiden ist keine scharfe Grenze.
Diesen widernatürlichen Zustand als Krankheitsursache nennt er auch
Diathesis die Wirkung der schädlichen Ursache nennt er
Pathos (jrd'ö’o?), Begriffe, die heute noch unter uns lebendig sind.
Neben den Humores kennt Galen freilich noch ein Fluidum, in dem
die Luft des Empedokles nachklingt, das Pneuma, das die Einheit im
Organismus herstellt, von dem er aber 3 Arten aufstellt, den Seelengeist
(jivsü/za im Hirn, die Naturkraft (pvatxov) in der Leber
und den Lebensgeist (nvsv/ua £a>Tixdv) im Herzen, von ihm erhalten Nerven
und Gefäße ihre Dynamis (övvapiii;) und gehen Kräfte aus für Er-
nährung, Absonderung, Wachstum, Zeugung.
Während Hippokrates durch die Säftelehre in seinem praktischen
Handeln unbeeinflußt blieb, ist sie in Galens Lehre die Grundlage
der Therapie, mit der er die aus der Elementarzusammensetzung sich
ergebenden falschen Qualitäten durch Mittel entgegengesetzter Wirkung
bekämpft, wie z. B. kalte Qualität durch erhitzende Maßnahmen. Zum
ersten Male ertönt der Kampfruf: contraria contrariis, während Hippo-
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