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Ernst, Paul; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1928, 12. Abhandlung): Wurzeln der Medizin: Festrede ... am 10. Juni 1928 — Berlin, Leipzig, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.43554#0017
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Wurzeln der Medizin.

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Mächten. Wenn alle diese metaphysisch dinglich zu sein schienen, so
mag es im ersten Augenblick überraschen, wenn ich zu etwas rein Tech-
nischem übergehe und einen Sprung zur Methode der Anatomie zu
machen scheine. Allein die Methode der Anatomie ruht auf dem morpho-
logischen Gedanken, dessen Theoria (#euyua) die Anschauung und
dessen Techne (re%r^) die Anatomie ist. Nicht als ob die Alten nicht
auch Anatomen gehabt hätten. In Alexandria blühte die Anatomie
unter Herophilos und Erasistratos. Aber sie war ein Teil der Natur-
forschung und die Medizin war wenig von ihr berührt. Galen brüstet
sich mit seiner Anatomie, aber sie hat keinen Teil an seinem System.
Die Anatomie hatte immer ungeheure Widerstände zu überwinden. Die
Leiche galt als heilig und unantastbar, ihre Verstümmelung forderte zur
Rache auf. Der Jenseitsglaube der Ägypter heischte Einbalsamierung
und Totenstädte, der Ahnenkult der Chinesen ließ Anatomie nicht zu.
Auch den Griechen war der tote Körper heilig (Antigone). Die Not-
wendigkeit den inneren Körper zu erforschen hat erst das Abendland
empfunden. Im anatomischen Gedanken hat die abendländische
Medizin den ihr angemessenen Ausdruck gefunden, die Form, in der sie
sich selbständig entwickeln konnte und fruchtbar wurde. Das Geburts-
jahr ist 1513, da Andreas Vesalius Bruxellensis, aber von deutschem
Blut, von Padua aus in Basel die sieben Bücher de humani corporis
fabrica herausgab und darin nachwies, daß Galens Anatomie Tier-, meist
Affenanatomie war. Damit wurde Vesal der Vater der abendländischen
Medizin überhaupt. Aus der Anatomie entsteht die Physiologie,
die nun keine bloße Spekulation mehr ist, denn Anatomie bleibt ihr
Rückgrat und hält sie an Organe gebunden. 1761 erschien das Werk
des 80jährigen Gianbattista Morgagni de sedibus et causis morbum,
Sitz und Ursachen, auch heute noch immer unsere wichtigsten Ziele.
Was Vesal für den normalen Körper geleistet, schafft Morgagni für die
krankhaft veränderten Organe. Nach Virchows Ausdruck (in Rom
1894) weist er den Krankheiten einen Sitz an und führt den anatomischen
Gedanken in die Medizin ein. Auf diesem Boden entwickelt sich die
Organdiagnostik der inneren Medizin mit Auskultation und Perkussion
und in unseren Tagen mit Hilfe der Durchleuchtung (Anatomie am
Lebenden!), aber vor allem die Chirurgie. So gewinnt die abendländische
Medizin durch den anatomischen Gedanken eine scharf umrissene eigene
Physiognomie gegenüber allen Medizinschulen anderer früherer Kultur-
kreise.
Oft waren Kräfte am Werk, die vom anatomischen Gedanken ab-
lenken wollten, aber sie blieben ohne Erfolg. Dem Träger des anatomischen
Gedankens stand immer ein Antagonist gegenüber, so entsprach im 16.
 
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