Metadaten

Ernst, Paul; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1928, 12. Abhandlung): Wurzeln der Medizin: Festrede ... am 10. Juni 1928 — Berlin, Leipzig, 1928

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43554#0018
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
18

Paul Ernst:

Jahrhundert dem Anatomen Vesal der Alchymist Paracelsus, im 17. den
Malpighi und Harvey der Chemiater van Heimont, im 18. den Haller
und Morgagni die Animisten Hoffmann und Stahl, im 19. den Bichat
und Laennec der Reizphysiologe Broussais. Aber die Zeit hat gelehrt,
daß alles, was im Abendland Bestand haben sollte, irgendwie an den
anatomischen Gedanken anknüpfte. Wir sind gar nicht fähig, diese uns
bestimmte Form zu sprengen, ohne unser Bestes preiszugeben.
Den nächsten naturnotwendigen und logischen Schritt machte Vir-
chow. 20 Jahre nachdem er in Johannes Müllers Vorlesung die Zusam-
mensetzung der Pflanzen und der Tiere aus Zellen kennengelernt hatte,
wandte er 1858 in der Zellularpathologie die Zellenlehre auf die Patholo-
gie an. DieBlütenträume des Jünglings reiften zu den Früchten des Mannes.
Die Zelle ist als Elementarorganismus der Träger der Lebensvorgänge, ohne
sie kein Leben. Es gibt nichts Lebendes, was nicht aus Zellen bestünde
und aus einer Zelle entstünde. Lebewesen sind Summen vitaler Einheiten,
deren jede den vollen Charakter des Lebens trägt. Zellen sind auch im
föderativen und sozialen Verband autonom. In der Zellenkultur außer-
halb des Körpers unabhängig von Nervensystem und Blutzufuhr be-
weisen sie ihre Autonomie durch Wachstum und Vermehrung zu tausenden
von Generationen mit wahrhaft astronomischen Zahlen der Individuen.
Zwischen normalen und pathologischen Lebensvorgängen ist kein grund-
sätzlicher Unterschied, bloß ein solcher des Grades. Virchow hat sich
gerne wie vor ihm schon Schleiden des Bildes des Moleküls bedient,
indem er die Zelle mit dem Molekül verglich und die Bedeutung der
Zellentheorie für die organische Welt mit derjenigen der Molekulartheorie
für die Welt der Materie überhaupt. Die Zelle sei gleichsam ein organisches
lebendiges Molekül. Mit dieser Parallele schließt sich aber die vierte
Wurzel der Anatomie durch die Zellentheorie an die erste Wurzel der
kosmischen Elemente und die zweite der physikalischen Atome logisch an.
Plinius sagte einst: in minimis latet natura! Virchow sagt: im Einfach-
sten und Kleinsten offenbart sich am deutlichsten das Gesetz — und
meint damit die Zelle.
Die Zellularpathologie ist heute 70 Jahre alt und wird es auch
auf 80 und 100 bringen, denn sie war der letzte Versuch, die Pathologie
unter einem großen Gesichtspunkt zusammenzufassen. Die Pathologie
ist heute keine reine Zellularpathologie mehr, aber nicht weil die zelluläre
Doktrin falsch oder überwunden wäre, sondern weil Pathologie nicht aus
einem Prinzip abzuleiten ist, denn Pathologie ist die Variation des
Themas und Variationen sind unendlich. Die Zellulartheorie wird dauernd
ihr Recht behalten neben vielen anderen. Pathologie ist nicht nur Zellular-
oder Relations-, nicht Solidar- oder Humoralpathologie, sondern eines
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften