Hilbert’s erste Vorlesung über die Grundlagen der Geometrie 7
stände, dass der Sinn der Axiome keineswegs sicher
feststeht; sie sollen z. B. den Begriff der Geraden
definiren helfen und dabei kommt das Wort
„Gerade“ in ihnen selbst vor und nicht nur dieses,
sondern auch „Punkt“ und „Ebene“, die selbst noch
zu erklären sind. Wir haben Münchhausen, der
sich an seinem eigenen Schopfe aus dem Sumpfe
zieht. Die Unabhängigkeit eines Axioms A von
andern ist die Widerspruchsfreiheit des contradict.
Gegentheils von A mit den anderen Axiomen.
Ich habe Gründe zu glauben, dass die Widerspruchs-
frei h eit *) gegenseitige Unabhängigkeit der Axiome
der euklidischen Geometrie nicht bewiesen
werden kann. H. macht es so, dass er das Gebiet
erweitert, sodass die euklid. Geom. als besonderer
Fall erscheint; und in diesem erweiterten Ge-
4. Seite:
biete kann er nun die Widerspruchsfreiheit
durch Beispiele zeigen; aber nur in diesem er-
weiterten Gebiete; denn von der Widerspruchs-
freiheit in einem umfassendem Gebiete
kann man nicht auf die in einem
engeren schliessen; denn gerade durch die
Beschränkung können ja Widersprüche
hineinkommen. Umgekehrt ist
der Schluss natürlich erlaubt. Der Wort-
laut hat ihn da wohl getäuscht. Wenn man
denselben Wortlaut hat bei einem Axiome,
glaubt man leicht dasselbe Axiom zu ha¬
ben. Aber es kommt auf den Sinn an;
und dieser ist verschieden, jenachdem die
Worte „Punkt“, „Gerade“ u. s. w. im Sinne der
euklid. Geometrie oder in einem weiteren ver-
standen werden. Diese und andere Bedenken habe ich brief-
lich H. mitgetheilt, worauf ich noch keine Ant-
wort habe. H. scheint aber, nach dem, was er
dem Prof. Gutzmer gesagt hat, wenigstens teilweise
*) Von Frege gestrichen.
stände, dass der Sinn der Axiome keineswegs sicher
feststeht; sie sollen z. B. den Begriff der Geraden
definiren helfen und dabei kommt das Wort
„Gerade“ in ihnen selbst vor und nicht nur dieses,
sondern auch „Punkt“ und „Ebene“, die selbst noch
zu erklären sind. Wir haben Münchhausen, der
sich an seinem eigenen Schopfe aus dem Sumpfe
zieht. Die Unabhängigkeit eines Axioms A von
andern ist die Widerspruchsfreiheit des contradict.
Gegentheils von A mit den anderen Axiomen.
Ich habe Gründe zu glauben, dass die Widerspruchs-
frei h eit *) gegenseitige Unabhängigkeit der Axiome
der euklidischen Geometrie nicht bewiesen
werden kann. H. macht es so, dass er das Gebiet
erweitert, sodass die euklid. Geom. als besonderer
Fall erscheint; und in diesem erweiterten Ge-
4. Seite:
biete kann er nun die Widerspruchsfreiheit
durch Beispiele zeigen; aber nur in diesem er-
weiterten Gebiete; denn von der Widerspruchs-
freiheit in einem umfassendem Gebiete
kann man nicht auf die in einem
engeren schliessen; denn gerade durch die
Beschränkung können ja Widersprüche
hineinkommen. Umgekehrt ist
der Schluss natürlich erlaubt. Der Wort-
laut hat ihn da wohl getäuscht. Wenn man
denselben Wortlaut hat bei einem Axiome,
glaubt man leicht dasselbe Axiom zu ha¬
ben. Aber es kommt auf den Sinn an;
und dieser ist verschieden, jenachdem die
Worte „Punkt“, „Gerade“ u. s. w. im Sinne der
euklid. Geometrie oder in einem weiteren ver-
standen werden. Diese und andere Bedenken habe ich brief-
lich H. mitgetheilt, worauf ich noch keine Ant-
wort habe. H. scheint aber, nach dem, was er
dem Prof. Gutzmer gesagt hat, wenigstens teilweise
*) Von Frege gestrichen.