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Goldschmidt, Victor; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung A, Mathematisch-physikalische Wissenschaften (1921, 12. Abhandlung): Über Complikation und Displikation — Heidelberg: Winter, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.56266#0057
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Über Complikation und Displikation.

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gegeben. Dagegen hat die Naturwissenschaft der Mathematik Auf-
gaben gestellt und Wege vorgezeichnet. Baukunst und Astronomie
haben die Grundlagen der Geometrie gelegt, und die Rechenkunst
zählte die Schafe der Herde und die Tage des Jahres. Mathematik
Und Naturwissenschaft sind nicht zu trennen, und es ist müßig,
darüber zu streiten, wessen Leistungen die wertvolleren sind. Die
Mathematik selbst ist Naturwissenschaft. Wenn wir in Schillers
„Spaziergang“ lesen:
Aber im stillen Gemach entwirft bedeutende Zirkel
Sinnend der Weise, beschleicht forschend den schaffenden Geist,
Prüft der Stoffe Gewalt, der Magnete Hassen und Lieben,
Folgt durch die Lüfte dem Klang, folgt durch den Äther dem Strahl,
Sucht das vertraute Gesetz in des Zufalls grausenden Wundern,
Sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht,
so fragen wir: Ist das Mathematik oder Naturwissenschaft? Wohl
beides zugleich.
Sache der Naturwissenschaft ist nicht der mathematische
Ausbau einer Funktion, ihr fällt dagegen die Aufgabe zu, ihre
Probleme so zu formen, daß sie mit den bekannten mathematischen
Funktionen behandelt werden können. Wo aber eine zur Bear-
beitung des Problems dienliche Funktion seitens der Mathematik
nicht geboten wird, kommt es der Naturwissenschaft zu, von der
Mathematik eine solche Funktion zu verlangen und ihr das Material
dazu an die Hand zu geben. Wenn möglich zu zeigen, daß eine
solche Funktion vorliegt und möglichst viele Eigenschaften derselben
anzugeben. Der Ausbau der Funktion fällt der Mathematik zu.
Beispiel. Naturwissenschaft und Philosophie hatten sich lange
mit dem unendlich Kleinen befaßt, mit der Aufgabe, einen Körper
(Krystall) in unendlich kleine, Teilchen (durch Lösung) aufzulöseh
und aus den unsichtbar kleinen Teilchen (Molekülen) den greifbaren
Körper (Krystall) mit all seinen Eigenschaften aufzubauen. Daraus
ergab sich das naturwissenschaftliche Problem. Die Naturwissen-
schaft drängte auf Schaffung der Funktion und lieferte Eigenschaften
derselben in großer Zahl. Und es ist kein Zufall, daß ein Philosoph
(Leibniz), der sich mit der Natur befaßte, die wundervolle Diffe-
rential- und Integral-Funktion geformt hat. Sache der Mathematiker
war es, die Funktion auszubauen.
Es dürfte sich zeigen lassen, daß alle elementären Funktionen
der Mathematik (Summe, Differenz, Potenz, Wurzel, die trigono-
 
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