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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1910, 10. Abhandlung): Die Erneuerung des Hegelianismus: Festrede in der Sitzung der Gesamtakademie am 25. April 1910 — Heidelberg, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.32156#0004
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W. Windelband:

lierung für die positive Abgrenzung und inhaltliche Bestimmung
des eigenen Forschungsgebietes der Philosophie: sie ist noch
nicht in eindeutiger und allgemein angenommener Weise he-
stimmt.

Kant hat dies Forschungsgehiet mit dem Namen der Kritik
der Vernunft bezeichnet: wobei unter Kritik die Besinnung, die
systematische Besinnung auf die prinzipiellen Grundlagen alles
Vernunftlebens, die wissenschaftliche Bloßlegung der Grund-
strnktur aller Kulturfunktionen zn verstehen ist. Das ist tat-
sächlich der Ertrag der Kantischen Kritiken, wenn auch diese
Formel selbst bei Kant nicht zu fmden und vielleicht sogar ihr
Sinn in dieser Weise ihm nicht geläufig ist. Seine Trans-
scendentalphilosophie ist in ihren Ergehnissen die Wissen-
schafl: von den Priuzipien alles dessen, was wir jetzt mit dem
Namen Kultur zusammenfassen. Sie forscht nach den hegriff-
lichen Grundlagen des Wissens, der Sittlichkeit, des Rechts, der
Geschichte, der Kunst, der Religion: und sie tut es in dem
Sinne, daß diese Grundlagen in ihrer sachlichen Selbstverständ-
lichkeit aufgedeckt werden, .wie sie, unabhängig von aller em-
pirisclien Erfassung durch das individuelle oder durch das
historisch gemeinsame Bewußtsein, an sich gelten. Nichts anderes
ist. der Sinn des Äpriori bei Kant, clieses so vielfach rnißver-
standenen Wortes. Denn jenes sachlich Selbstverständliche ist,
wie.es Lotze gelegentlich fein gezeigt hat, nicht das psvcho-
logisch Ursprünglichc; es muß durch die fortschreitende Re-
flexion der Selbstverständigung des ßewußtseins erst aufgedeckt
und zur Anerkennung gebracht werden. Auch hier gilt das aristo-
telische Wort: das Trpoxepov xfj cpucret ist das uoiepov Tipö<g ij|ud^.

Diesen Charakter einer umfassenden Kulturphilosophie hat
der Kantischc Ivritizismus erst allmählich angenommen. Er
wurde aufgerollt an cler Ivritik der Wissenschaft und von da
durch die sachliche Notwendigkeit weitergedrängt von einer
Kritik zur anderen. Alle formalen Schwierigkeiten, die wir hei
dem Verständnis Ivants in der Abgrenzung zwischen der Kritik
der Vernunft und dem System der Vernunft antreffen, beruhen
schließlich auf diesem entwicklungsgeschichtlichen Verhältnis,
und alle scheinbaren Unstimmigkeiten verschwinden, sobald man
sich dieses deutlich gemacht liat.

Dieser Entwicklungsgang aher hat. sicli in der deutschen
Philosophie des letzten halben Jahrhunderts wiederholt. Auch
 
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