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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1912, 9. Abhandlung): Über Sinn und Wert des Phänomenalismus: Festrede — Heidelberg, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.32884#0004
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W. Windelband.

Phiiosophie nicht an Zügen, die dieser Anffassung Vorschuh
leisteten, und in Kants eigner wissenschaftlicher Entwicklung
war es begründet, daß ihm die mathematisch-naturwissenschaft-
lic'he Theorie als das höchste, als das wahre und eigentliche
Wissen galt.
Aher man verkannte damals, daß im Ganzen des Ivantischen
Denkens und seiner kritischen Philosophie diese Erkenntnislehre
der Yernunftkritik nur einen Teil, und zwar7 wie er selbst aus-
drücklicli hervorhob, nur den propädeutischen Teil des Systems
ausmachte. Wenn man mit Recht sagt, der Kritizismus sei er-
kenntnistheoretisch orientiert und alle zukünftige Philosophie
müsse es aucli sein, so will das in Wahrheit besagen, nicht daß
die Philosophie in Erkenntnistheorie aufgeht, sondern daß sie
von ihr ausgeht: sie ist Wissenschaftslehre in dem Sinne, daß
sie alle Probleme von der Frage aus entwickelt, wie sie Gegen-
stände der Erkenntnis werden können. Deshalb gelit die philo-
sophische Einsicht des Kritizismus unter allen Umständen durch
die Errungenschaften der ührigen Wissenschaften hindurch, ohne
in ihnen hangen zu bleiben: er will sie nicht meistern, sondern
von ihnen lernen; er will auch nicht aus ihnen ein Ganzes zu-
sammensuchen, sondern an ihnen sein Eignes entwickeln. Dies
Eigne aber ist die Aufdeckung der allgemeingültigen Vernunft-
werte, die in dem Gesamtbestande der von den einzelnen Wissen-
schaften durchforschten Kulturgebiete als ihre letzten Rechts-
gründe enthalten sind. Wenn also dies das neue Verhältnis
ist, worin durch Kant die Philosophie zu den besonderen Wissen-
schaften gesetzt wurde, so ist es durchzuführen nur durch
eine völlig unparteiische Anerkennung der Autonomie und des
Eigenwertes aller Disziplinen. Die kritische Philosophie darf
nicht die eine oder die andere Art des Wis'sens als die typische
oder normative vor den übrigen bevorzugen, sondern sie hat
gerade aus dem Verständnis der Verschiedenheiten und der da-
durch bedingten Gliederungen die Einsicht in die systematische
Struktur jener Vernunftwerte selhst herauszuarbeiten. Daher gerät
der Kritizismus auf ein totes Geleise, wenn er, Kants Einseitig-
keit übertrumpfend, seine AVissenschaftslehre auf die Infinitesimal-
rechnung zuzuspitzen unternimmt: umgekehrt gewinnt er die
freie Bahn in das Reich des Kult.urlebens nur dadurch, daß er,
Hegels Spuren folgend, in den geschichtlichen Disziplinen die
fruchtbare Ergänzung jener Einseitigkeit sucht.
 
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