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W. Windelband.
Unter Phänomenalismus verstehen wir im allgemeinen die
Lehre, daß die menschliche Erkenntnis im Clanzen oder zu einem
Teile nicht das wahre Wesen der Wirklichkeit, sondern nur ihre
Erscheinung, d. h. die Art erfasse, wie sie sich eben im mensch-
lichen Bewußtsein darstellt. Eine solche Behauptung ist nicht
etwa, wie viele unter dem Eindruck des Ivritizismus und seiner
Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert gemeint haben, mit
der Annahme des erkenntnistheoretischen Standpunktes in cier
Philosophie von selbst gegeben oder notwendig clamit verbunden:
sondern sie bedeutet nur eine Richtung in der Erkenntnistheorie,
nur eine der möglichen Antworten auf deren Kardinalfrage. Diese
aber hat nichts anderes zu ihrem Inhalt als das Verhältnis cles
Objektiven zum Realen, cles Wissens zur Wirklichkeit, des Be-
wußtseins zum Sein. Was objektiv, d. h. in allgemeingültiger
Weise erkannt ist, das lehren die Wissenschaften, und dessen
Geltung ist völlig davon unabhängig und wird in keiner Weise
davon berührt, was nun die Philosophie über diese Beziehung
des Erkannten zu einer absoluten Wirklichkeit, die das vor-
wissenschaftliche Bewußtsein ihm als ,,Gegenstand“ gegenüber-
stellt, etwa herausbringt. Und jene Frage selbst erlaubt viele
Antworten: das Verhältnis muß durch irgendeine Kategorie ge-
dacht werden, und es lassen sich mehr als eine mit guten
Gründen darauf anwenden; nur können diese Grüude nirgends
anders gefunden werden, als in dem, was uns die Wissenschaften
selbst über ihre „Gegenstände“ lehren.
Die erste, naive Antwort auf clie erkenntnistheoretische
Grundfrage bestimmt das Wissen durch die Kategorie der Gleich-
heit, als Gleichheit zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, und
dies bleibt ein niemals ganz abzustreifender Richtbegriff fiir alles
philosophische Nachdenken über die Probleme der Erkenntnis.
Es liegt darin die Voraussetzung, daß beim Wissen sich derselbe
Inhalt im Bewußtsein fmden soll, dem außerhalb dieses er-
kennenden Bewußtseins ein „Sein“ zukommt. Das Bewußtsein
und sein Gegenstand sollen inhaltlich gleich und nur in der
Seinsweise verschieden sein: clerselbe Inhalt besitzt clas „esse
in intellectu“ und das „esse in re“. Wenn aber clabei cla.s Be-
wußt-sein doch auch als eine Art des Seins, wenn auch eben
verschieclen von dem sonstigen Sein und cloch dadurch be-
stimmt und clavon abhängig gedacht wircl, so erscheint es zwar
begreiflich, daß es Seiencles geben mag, das nicht ins Bewußtsein
W. Windelband.
Unter Phänomenalismus verstehen wir im allgemeinen die
Lehre, daß die menschliche Erkenntnis im Clanzen oder zu einem
Teile nicht das wahre Wesen der Wirklichkeit, sondern nur ihre
Erscheinung, d. h. die Art erfasse, wie sie sich eben im mensch-
lichen Bewußtsein darstellt. Eine solche Behauptung ist nicht
etwa, wie viele unter dem Eindruck des Ivritizismus und seiner
Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert gemeint haben, mit
der Annahme des erkenntnistheoretischen Standpunktes in cier
Philosophie von selbst gegeben oder notwendig clamit verbunden:
sondern sie bedeutet nur eine Richtung in der Erkenntnistheorie,
nur eine der möglichen Antworten auf deren Kardinalfrage. Diese
aber hat nichts anderes zu ihrem Inhalt als das Verhältnis cles
Objektiven zum Realen, cles Wissens zur Wirklichkeit, des Be-
wußtseins zum Sein. Was objektiv, d. h. in allgemeingültiger
Weise erkannt ist, das lehren die Wissenschaften, und dessen
Geltung ist völlig davon unabhängig und wird in keiner Weise
davon berührt, was nun die Philosophie über diese Beziehung
des Erkannten zu einer absoluten Wirklichkeit, die das vor-
wissenschaftliche Bewußtsein ihm als ,,Gegenstand“ gegenüber-
stellt, etwa herausbringt. Und jene Frage selbst erlaubt viele
Antworten: das Verhältnis muß durch irgendeine Kategorie ge-
dacht werden, und es lassen sich mehr als eine mit guten
Gründen darauf anwenden; nur können diese Grüude nirgends
anders gefunden werden, als in dem, was uns die Wissenschaften
selbst über ihre „Gegenstände“ lehren.
Die erste, naive Antwort auf clie erkenntnistheoretische
Grundfrage bestimmt das Wissen durch die Kategorie der Gleich-
heit, als Gleichheit zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, und
dies bleibt ein niemals ganz abzustreifender Richtbegriff fiir alles
philosophische Nachdenken über die Probleme der Erkenntnis.
Es liegt darin die Voraussetzung, daß beim Wissen sich derselbe
Inhalt im Bewußtsein fmden soll, dem außerhalb dieses er-
kennenden Bewußtseins ein „Sein“ zukommt. Das Bewußtsein
und sein Gegenstand sollen inhaltlich gleich und nur in der
Seinsweise verschieden sein: clerselbe Inhalt besitzt clas „esse
in intellectu“ und das „esse in re“. Wenn aber clabei cla.s Be-
wußt-sein doch auch als eine Art des Seins, wenn auch eben
verschieclen von dem sonstigen Sein und cloch dadurch be-
stimmt und clavon abhängig gedacht wircl, so erscheint es zwar
begreiflich, daß es Seiencles geben mag, das nicht ins Bewußtsein