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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1912, 9. Abhandlung): Über Sinn und Wert des Phänomenalismus: Festrede — Heidelberg, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.32884#0022
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W. Windelband.

im Gegensatz dazu ist das Übersinnliche das Unerfahrbare und
deshalb nach der Defmition von der Wissenschaft das Unerkenn-
bare. Treten wir aber in die andern Teile der kritischen Philo-
sophie, so ist das Reich des Übersinnlichen der uns wohlbekannte
Bezirk der ethischen und ästhetischen, schließlich der religiösen
Werte, von denen wir doch, so weit sie über unser menschliches
Dasein hinausragen mögen, nur deshalb reden können, weil sie
irgendwie in unserem Bewußtsein erlebt, im inneren Sinn er-
fahren werden: ,und jetzt bedeutet deshalb im Gegensatz zu
diesem „Übersinnlichen“ die Sinnenwelt nur noch die materiell-
natürliche Wirklichkeit, der wir als organische Ivörper einge-
ordnet sind. In diesem charakteristischen Bedeutungswechsel
tritt zutage, wie Kant, wenn in seiner theoretisc.hen Philosophie je
eine Tendenz war, die auf den absoluten Phänomenalismus zutrieb
(und das war sicher der Fall), diesem die Spit.ze abbrach und ihn
in einen partiellen Phänomenalismus umbog, der wieder auf
eine Zweiweltentheorie platonischer Struktur hinauslief. Wie
aber die Theorie von der Sinnenwelt als Erscheinung aus dem
Begreifen der Naturwissenschaft gewonnen wurde, so ließ es
sich für die folgende Entwicklung voraussehen, daß das Ver-
ständnis der Welt der Werte als der höheren Realität durch die
Kulturwissenschaft, d. h. durch die historischen Disziplinen
werde hindurchgehen müssen. Das geschah tatsächlich schon
in Kants eigner späteren Entwicklung, mit vollem methodischen
Rewußtsein aber bei Idegel und bei Lotze.
Eine andere Seite dieser Wandlung haben wir darin zu
sehen, daß mit der gleichen Entwicklung auch das Verhältnis
zwischen übersinnlicher und sinnlicher Welt sich verschiebt,
.lede phänomenalistische Zweiweltenlehre hat notwendig ein dop-
peltes Gesicht: auf der einen Seite muß das Wesen etwas anderes
sein als seine Erscheinung, ihre Verschiedenheit also möglichst
stark betont werden; auf der andern Seite muß doch das Wesen,
nach dem Prinzip des biacruReiv Tct (paivopeva, so gedacht werden,
daß es in den Erscheinungen selbst erscheint und sich dar-
stellt. Völlige Ungleichheit zwischen beiden würde das kate-
goriale Verhältnis ebenso aufheben wie völlige Gleichheit. Darum
statuierte der Platonismus die unvollkommene Nachbildung als
das Grundverhältnis zwisc.hen Idee und Erscheinung. Aber auch
in ihm fmden wir neben der negativen Tendenz, welche die
beiden Welten so weit wie möglich trennt, die positive, der es auf
 
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