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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1912, 9. Abhandlung): Über Sinn und Wert des Phänomenalismus: Festrede — Heidelberg, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.32884#0025
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Über Sinn und Wert des Phänomenalismus.

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von denen der Philosoph immer wieder versicherte, daß sie nnr
eine „für uns Menschen“ notwendige Vorstellungsweise, aber
weder Dinge an sicli selbst noch Verhältnisse solcher Dinge be-
deuten können. Dagegen würden die Lvategonen, wenn nur die
rechte Mannigfaltigkeit für diese synthetischen Formen des Ver-
standes vorhanden wärern, an und für sich durchaus zur Erkenntnis
der Dinge-an-sich taugen. Die Phänomenalität des Wissens hängt
also nur daran, daß es ,,für uns“ keine andere Mannigfaltigkeit
gibt als die in Raum und Zeit angeschaute. Den Kategorien allein
käme danach dieselbe Gültigkeit für „alle vernünftigen Wesen“ zu,
die Kant für das „Faktum der reinen Vernunft“, das Sittengesetz
in Ansprucli nahm.
Damit spitzt sich das Problem des kritischen Phänomenalis-
mus auf Ivants Lehre von Raum und Zeit zu. Eben deshalb
führte der Weg zum Identitätssystem durch die Niederreißung
der Schranke, die Ivant zwischen Sinnlichkeit und Vernunft be-
festigt liaben wollte. An diesem Punkte liegt also aucli heute
noch die große Frage aller Erkenntnistheorie. Es bleibt immer
noch zu entscheiden, ob sicli die Mathematik, um ihre Apriorität
zu retten, damit zufrieden geben soll, daß die Gesetzmäßigkeiten,
die sie in der Konstruktion des Zahlensystems und der Raum-
welt entdeckt, in den besonderen Gegebenheiten des mensch-
lichen Anschauens begründet und darauf in ihrer Geltung be-
schränkt sind, oder ob sie meinen darf, darin Notwendigkeiten
zu entfalten, die in übergreifenden universellen Zusammen-
hängen der absoluten Wirklichkeit verankert sind.
Insonderheit aber stößt die Phänomenalität der Zeit auf die
schwersten Redenken wegen ihrer untrennbaren Verbundenheit
mit allen Begriffen des Geschehens. Je mehr wir die Welt als
Prozeß denken und ihre Realität gerade dahin verstehen wollen,
daß in ihr etwas und zwar etwas Neues geschehen kann, und daß
in ihr das Wollen einen Sinn hat, um so unentbehrlicher werden
uns die Bestimmungen der Zeit. Und was soll es uns helfen, in
der absoluten Wirklichkeit irgendwelche völlig unbekannte Ver-
hältnisse vorauszusetzen, von denen in durchgängiger völlig un-
begreiflicher Zuordnung die Zeit mit ihren Bestimmungen und
Beziehungen nur die Erscheinung, d. h. die spezifisch menschliche
Vorstellungsweise darstellte? Ist das nicht eine gänzlich unbe-
nötigte und dabei unfruchtbare Vermehrung der Prinzipien? Die
Annahme des Unerkennbaren liilft uns auch hier nicht den ge-

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