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Richard Reitzenstein:
werden. Für dies Lesepublikum ist die pathetische Rede verfaßt;
auf eine wirkliche Benutzung amtlicher Akten verweist in dem
ganzen Bericht über Appianos schlechterdings nichts 1.
Etwas anders steht es mit dem ältesten Martyrium, dem des
Isidoros. Die Verhandlungsberichte müßten aus dem kaiserlichen
Archiv stammen, aber sie sind ägyptisch datiert, und zwar in der
Form der späteren literarischen Streitgespräche: ‘erster Tag,
zweiter Tag’. Das angebliche Protokoll des ersten Tages enthält,
soweit wir nacli den Resten raten können, etwa folgendes: die
alexandrinische Gesandtschaft, an deren Spitze der dem Kaiser
persönlich verhaßte Isidoros steht, bittet um Audienz; hierüber
findet in ihrer Abwesenheit eine Beratung statt; der Senator
Tarquitius (?)erhebt sichund spricht gegen die Bewilligung; es sei
keine Staatsangelegenheit. Ein anderer, Aviola, weistauf die Folgen
einer Verweigerung. Hierauf ging der Kaiser in den Sitzungssaal,
nahm Platz, ließ die Gesandten hereinrufen und teilte ihnen als
neuen Beschluß mit, er wolle sie am anderen Tage hören. Das
Protokoll des zweiten Tages beginnt: Audienz gibt Claudius Caesar
Augustus dem Isidoros, dem Gymnasiarchen von Alexandria, in
der Sache gegen König Agrippa; sein Concilium bilden 24 (?)
Senatoren, darunter 16 Konsulare; zugegen ist die Kaiserin mit
ihren Damen; Isidoros beginnt. — Das ist durchaus die Form
eines amtlichen, freilich abkürzend überarbeiteten Protokolls und
mag tatsächlich auf ein solches zurückgehen. Aber daß auch die
Beratungen des ersten Tages, die mit dem Prozeß als solchem
nichts zu tun liaben und bei denen die Gesandten gar nicht zugegen
sind, zu diesem Protokoll gehören und den Hinterbliebenen nach
der Hinrichtung amtlich mitgeteilt sind, scheint mir weder sachlich
notwendig noch innerlich wahrscheinlich. Ich halte es für durch-
aus möglich, daß hier Privatmitteilungen zugrunde liegen, die, da
sie sich trefflich zur Einleitung einer aufreizenden Erzählung
eignen, den Verhandlungen des zweiten Tages zugefügt und daruin
zum Zweck stilistischer Ausgleichung in Protokollform umgesetzt
sind. Über ilire sachhche Unrichtigkeit ist damit noch nichts gesagt.
1 Keine der üblichen Formeln kehrt wieder, und die Dialogform an
sich beweist nichts. —- Anders und doch auch wieder ähnlich ist das
angebliche Protokoll Griech. Urk. d. Berl. Museums 1024 zu beurteilen,
auf das micli Prof. Lenel und Partsch aufmerksam machten. Auch
hier handelt es sich um eine Art Erzählung, die sich nur äußerlich der
Urkundenform nähert und daher ebenfalls mißverstanden worden ist.
Richard Reitzenstein:
werden. Für dies Lesepublikum ist die pathetische Rede verfaßt;
auf eine wirkliche Benutzung amtlicher Akten verweist in dem
ganzen Bericht über Appianos schlechterdings nichts 1.
Etwas anders steht es mit dem ältesten Martyrium, dem des
Isidoros. Die Verhandlungsberichte müßten aus dem kaiserlichen
Archiv stammen, aber sie sind ägyptisch datiert, und zwar in der
Form der späteren literarischen Streitgespräche: ‘erster Tag,
zweiter Tag’. Das angebliche Protokoll des ersten Tages enthält,
soweit wir nacli den Resten raten können, etwa folgendes: die
alexandrinische Gesandtschaft, an deren Spitze der dem Kaiser
persönlich verhaßte Isidoros steht, bittet um Audienz; hierüber
findet in ihrer Abwesenheit eine Beratung statt; der Senator
Tarquitius (?)erhebt sichund spricht gegen die Bewilligung; es sei
keine Staatsangelegenheit. Ein anderer, Aviola, weistauf die Folgen
einer Verweigerung. Hierauf ging der Kaiser in den Sitzungssaal,
nahm Platz, ließ die Gesandten hereinrufen und teilte ihnen als
neuen Beschluß mit, er wolle sie am anderen Tage hören. Das
Protokoll des zweiten Tages beginnt: Audienz gibt Claudius Caesar
Augustus dem Isidoros, dem Gymnasiarchen von Alexandria, in
der Sache gegen König Agrippa; sein Concilium bilden 24 (?)
Senatoren, darunter 16 Konsulare; zugegen ist die Kaiserin mit
ihren Damen; Isidoros beginnt. — Das ist durchaus die Form
eines amtlichen, freilich abkürzend überarbeiteten Protokolls und
mag tatsächlich auf ein solches zurückgehen. Aber daß auch die
Beratungen des ersten Tages, die mit dem Prozeß als solchem
nichts zu tun liaben und bei denen die Gesandten gar nicht zugegen
sind, zu diesem Protokoll gehören und den Hinterbliebenen nach
der Hinrichtung amtlich mitgeteilt sind, scheint mir weder sachlich
notwendig noch innerlich wahrscheinlich. Ich halte es für durch-
aus möglich, daß hier Privatmitteilungen zugrunde liegen, die, da
sie sich trefflich zur Einleitung einer aufreizenden Erzählung
eignen, den Verhandlungen des zweiten Tages zugefügt und daruin
zum Zweck stilistischer Ausgleichung in Protokollform umgesetzt
sind. Über ilire sachhche Unrichtigkeit ist damit noch nichts gesagt.
1 Keine der üblichen Formeln kehrt wieder, und die Dialogform an
sich beweist nichts. —- Anders und doch auch wieder ähnlich ist das
angebliche Protokoll Griech. Urk. d. Berl. Museums 1024 zu beurteilen,
auf das micli Prof. Lenel und Partsch aufmerksam machten. Auch
hier handelt es sich um eine Art Erzählung, die sich nur äußerlich der
Urkundenform nähert und daher ebenfalls mißverstanden worden ist.