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Gothein, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1913, 7. Abhandlung): Die Reservearmee des Kapitals — Heidelberg, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.33050#0019
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Die Reservearmee des Kapitals.

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besondere Berücksichtigung seitens der öffentlichen Meinung und
vor allem des Staates. In der Kartellpolitik ist, wie wir sahen,
fast immer ein mittelständlerischer Einschlag vorhanden; und
die fast zärtliche Sorge, die der Staat heute der Erhaltung der
großen Kartelle widmet, gilt vor allem der Erhaltung dieser
schwächeren Mitglieder, für deren Existenz bei freier Konkurrenz
man fürchtet. Wie in den Kartellen überhaupt sind auch hier die
Grundsätze des früheren Direktionssystems, bei dem sich der
Staat verpflichtet hielt, jeder Unternehmung, die er unter seine
Obhut genommen, ihren Bestand zu sichern und jede vermeint-
liche Kapitalverwüstung zu verhindern wieder aufgelebt 1.

Was von der bisher betrachteten Heranziehung des stehenden
Kapitals als Reserve gilt, v,dederholt sich auf dem Gebiete des

1 Solange diese mittleren Unternehmungen selber an der Spitze standen,
waren sie die eigentlichen Vorwärtsstrebenden, Unternehmungslustigen. Seit sie
in die Hinterhand gedrängt sind, hat zwar ihre Tätigkeit und Geschäftsklugheit
nicht abgenommen, aber die Zaghaftigkeit in der Investierung neuen Kapi-
tals, wo schon die Verwertung des alten so manchen Schwierigkeiten begegnet,
ist eingezogen Vordringende Unternehmungslust und entsprechender Leicht-
sinn findet sich jetzt viel häufiger im Kleinkapitalismus, der denn auch
eher die Parvenus der Industrie liefert. Jener Mittelstand des Kapitalismus
seufzt dagegen unter dem Joch der Konjunktur und sucht sie—• eben durch
Kartellkontingentierung abzuschwächen. Lasalles berühmte Ausführungen
über die Konjunktur bedürfen heute einer wesentlichen Erweiterung. Sobald
aber wie durchs Kaligesetz ein Schein der Sicherheit gegeben ist, erwacht sofort
wieder der alte, ja der leichtfertige Wagemut und eine kurze Zeitlang eröffnen
sich für die mittleren Unternehmungen wieder goldene Tage. Wie beim ka-
pitalistischen Unternehmer lassen sich jene Abstufungen auch beim Renten-
kapitalisten verfolgen, wobei man von den nur individuellen Typen des
Geizigen, des Verschwenders usw. absehen muß. „Sorgenvoll“ studiert der
Rentner-Mittelstand den täglichen Kurszettel, er stellt die unermüdlichen Fra-
ger am Schalter des Bankiers, er betrachtet jede Ivonversion wie in den Zeiten
Sullys und Colberts als ein ihm persönlich angetanes Unrecht. Ängstlichkeit
und Ruhebedürfnis sind seine wirtschaftlichen Grundeigenschaften. Der viel-
berufene „satte Kapitalist“ früherer Tage, der immer nur der satte Rentner
sein konnte, denn der kapitalistische B e t r i e b ist seinem inneren Wesen nach
unersättlich, gehört so ziemlich der Vergangenheit an. Der deklassierte
oder Deklassierung ahnende Rentner ist der eigentliche dilettantische Spe-
kulant; er spielt in allen Lotterien, macht in schlechten Kuxen usw.; ihn
kennzeichnet die Mischung von falschem Optimismus und Verbitterung,
die allen Deklassierten eignet. Der Renten-Proletarier endlich, der nur
nebenbei etwas Rentenbezug erstrebt, ist zum Unterschied vom Arbeits-
Proletarier meist eine ganz zufriedene Natur. Er begnügt sich mit den nie-
deren Zinsen seiner Sparkasse und gerät nur in wilde Panik, wenn er diese
bedroht glaubt.

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