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Gothein, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1913, 7. Abhandlung): Die Reservearmee des Kapitals — Heidelberg, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.33050#0022
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22

E. Gothein:

So geschah es beim Getreidehandel im Mittelalter, den man in
seinem kapitalistischen Betrieb nur, wenn man durch drohende
Hungersnot oder drohende Überfüllung gezwungen war, zuließ, um
ihn sobald als möglich mit Schimpf uncl Schande wieder zu ver-
jagen. So bei den Soldtruppen, der ersten großen kapitalistischen
Unternehmung, die lange Zeit nur als Ergänzung für Lehensheer
und Landsturm, die typischen Formen einer militärischen Bedarfs-
deckungswirtschaft, deren reguläre Funktionen aber zu oft versagten,
galten, und die mit erleichterten Herzen abgedankt wurden, wenn
man sie nicht mehr bedurfte. So ist ja auch der Kredit lange nür
als Konsumtionskredit, also nur zu vorläufigem Dienst in Notlage,
zugelassen und zugleich gebrandmarkt worden. Aber auch im
Gewerbewesen, das mit seiner festen und juristisch gesicherten
Organisation zumal in Deutschland sich so lange gegen das Ein-
dringen der kapitalistischen Unternehmung mit Erfolg sträubte,
ist diese in den meisten Fällen nur eingedrungen, um Lücken zu
stopfen, die der zünftige Gewerbebetrieb in Warenversorgung und
Arbeiterbeschäftigung ließ. Sie blieb noch lange eine Abnormität,
und man suclite sie, sobald sie festen Fuß gefaßt hatte, in gute
polizeiliche Ordnung zu bringen, sie zu regularisieren.

In der weiteren Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft,
als man mit ihr im eigenen Land paktiert hat, spielt das internatio-
nale Kapital seine Rolle als Reservearmee. Die Politik des
Merkantilismus ist für das eigene Land Bedarfsdeckungswirtschaft
höherer Ordnung, wozu auch der kapitalistische Betrieb helfen
soll, und nur nach außen hin ist sie Erwerbswirtschaft. Ihr Haupt-
bestreben bleibt, die gesamte Produktion des eigenen Landes diesem
zu wahren, seinen Bedarf, soweit irgend möglich, aus eigenen Mit-
teln zu decken. In den Navigationsakten kommt diese Tendenz
zum schärfsten Ausdruck. Allein man braucht zur Ergänzung die
neutrale Flagge in allen abnormen Zeiten, um den Yerkehr nicht
erliegen zu lassen, wenn man ihn selber nicht führen oder nicht be-
wältigen kann. Aber man braucht sie auch nur dann! So wird
Sicherung der neutralen Flagge und des neutralen Handels zum
Mittelpunkt des ganzen Völkerrechts, soweit es Ausdruck wirtsc.haft-
licher Interessen ist. Auf solche Weise ist Hamburg im 18. Jalir-
hundert zum zweiten Handelsplatz Europas und der Welt geworden.
Seine Beziehungen zur heimischen Volkswirtschaft stehen erst in
zweiter Linie, die Neutralität, clie es zur internationalen Reserve-
truppe des Kapitals macht, überwiegt. Die Hamburger, ihr
 
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