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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1914, 4. Abhandlung): Die Hypothese des Unbewußten: Festrede gehalten in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 24.4.1914 — Heidelberg, 1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.33307#0012
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12

W. Windelband:

durch unsere bewußte Tätigkeit los zu werden, aus unserem un-
mittelbaren Bewußtsein mit Erfolg zu verdrängen suchen, doch
immer wieder an die Pforte des Bewußtseins pocht und sich nicht
abweisen läßt, — oder aus solchen Tatsachen, wonach etwa die
Absicht, zu bestimmter Stunde aufzuwachen, die doch weit ent-
fernt ist, auch nur dem Traumbewußtsein dauernd gegenwärtig zu
sein, pünktlich zur vorgesetzten Stunde sich verwirklicht, — oder
aus der hartnäckigen Wiederkehr von Wünschen und Absichten,
die wir überwinden wollen und, wenn wir zeitweilig voü ihnen
befreit zu sein glaubten, schließlich doch wieder mit unveränderter
Macht in uns wirksam vorfinden. Vor allem aber zeigt auch unser
Vorstellungsleben in allen seinen schöpferischen Tätigkeiten diese
stetige Mitwirkung des aktiv Unhewußten. Wer redet ocler schreibt,
der hat im Bewußtsein den dominierenden Inhalt dessen, was ihm
zu erzeugen vorschwebt: aber alles Besondere, dessen er dazu be-
darf, muß ihm, von der bewußten Absicht gerufen, dann doch aus
dem unbewußten Bestande seiner Vorstellungsinhalte zufließen.
Wir könnten über diesen ganzen Bestand nicht mit der mehr oder
rninder vollkommenen Sicherheit verfügen, wie es tatsächlich ge-
schieht, wenn dieser nur in träger Buhe beharrte und nicht mit
seiner Aktivität an dem Ablauf unserer bewußten Tätigkeit beteiligt
wäre. Dies Ineinancler bewußter und unbewußter Funktionen ist
nun aber nur dadurch möglich, daß das, was wir unser Gedäclitnis
nennen, nicht bloß ein zusammengekehrter Haufen von einzelnen
beharrenden Momenten ist, sondern vielmehr ein nach Sinn und
Verstand geordnetes System: und dies System ist aus der bloß
räumlichen Anlage cler Spuren im Gehirn wiederum niemals zu
begreifen.

Deshalb haben wir auch allen Anlaß, die Tatsachen des Ge-
dächtnisses in der Beproduktion durch die Annahme der psy-
chischen Existenz unbewußt beharrender Vorstellungsinhalte zu
erklären. Und das trifft nicht etwa eine gelegentliche und begrenzte
Nebenerscheinung unseres seelischen Lebens, sondern dessen eigent-
lichstes und bedeutsamstes Wesen. Denn auf der Verbindung der
in jedem Momente neu auftretenden Inhalte mit dem-
jenigen, was aus den früheren Erlebnissen zu ihrer Aufnahme und
Bestimmung ihnen entgegenkommt, — auf diesen Vorgängen der
Apperzeption beruht schließlich die Eigenart des seelischen Ge-
schehens. An dem Element der Ivörperwelt mag die Bewegung,
die es erfährt, abfließen, ohne seine Substanz zu ändern oder an
 
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