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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1914, 4. Abhandlung): Die Hypothese des Unbewußten: Festrede gehalten in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 24.4.1914 — Heidelberg, 1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.33307#0016
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16

W. Windelband:

gehörig abzuleiten imstande sind. VVenn wir den Begriff des
ebenen Dreiecks definiert liaben, so gehört zu seinen Eigenschaften
implicite, obwohl nicht in den Momenten der Definition ausgespro-
chen, die Gleichheit seiner Winkel mit zwei Rechten. Indem ich
die Figur konstruiere, habe ich unbewußt alle die Eigenschaf'ten
und Gesetzmäßigkeiten mitgesetzt, welche in ihrer Eigenart ent-
halten sind, und die mathematische Untersuchung, welche diese
Gesetzmäßigkeiten auseinanderlegt und einzeln ausspricht, ist
nichts als die Verdeutlichung alles desjenigen, was in der zwar
klaren, aber noch undeutlicben Konstruktion des Begriffes sach-
Iich gegeben war.

Damit berühren wir eine außerordentlich bedeutsame Art des
Verhältnisses zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten in
unserm Seelenleben. Es zeigt sich, daß dessen Tätigkeiten als be-
wußte an sacbliche Zusammenhänge gebunden sind, die erst von
der gereiften Reflexion aus der ursprünglich unbewußten Art,
worin wir sie vollziehen, in das Bewußtsein erhoben werden. Die
Beispiele, die ich anfiihrte, gehören zu dem Umkreise dessen,
was man in der Erkenntnistheorie seit Leibniz und Kant als
das Apriori bezeichnet. Philosophisch betrachtet, werden diese
Zusammenhänge sachlicher Notwendigkeit als ein logisches ,,Gel-
ten“ bezeichnet, bei dem nach der Art seines metaphysischen
Bestandes nicht gefragt werden soll: psychologisch betrachtet —
und auch cliese Betrachtung ist neben der philosophischen nötig,
weil die Erkenntnisse schließlich eben doch als seelische Tat-
sachen wirklich sind — psychologisch betrachtet, ist das a priori
Geltende in allen Fällen ein unbewußter Bestandteil des empirischen
Erlebnisses, der erst durch die bewußte Reflexion herausgearbeitet
werden muß. Damit aber zeigt sich, daß dies im Erlebnis implicite
a priori Enthaltene dem individuellen Bewußtsein nur deshalb
angehören kann, weil dieses eine liöhere und allgemeinere Gesetz-
mäßigkeit, eben die der sachlichen Notwendigkeiten, in sich trägt.

Fragen wir nun, wie ein solches Verhältnis zu denken ist,
so weist uns clie empirische Betrachtung auf das soziale Leben;
hier erwächst das individuelle Bewußtsein immer nur auf dem
Grunde eines seelischen Gesamtlebens in dem engeren oder wei-
teren sozialen Verbande, dem es mit seiner ganzen Entwicklung
angehört. In allen Lebensformen, in die das Individuum hinein-
wächst uncl die es aus dem Gesamtleben übernimmt, stecken jene
sachlichen Notwendigkeiten als der Ertrag vieler bewußter Tätig-
 
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