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Neumann, Carl; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]; Fraenger, Wilhelm [Bearb.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1916, 4. Abhandlung): Drei merkwürdige künstlerische Anregungen bei Runge, Manet, Goya — Heidelberg, 1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.34075#0006
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4

G. NEUMANN :

eigentlich sein . . . am Ende erfinde ich noch eine neue Baukunst,
die aber gewiß mehr eine Fortsetzung der gotischen wie der griechi-
schen wäre" (Runge und die Romantik, S. 54f., mit Abbildung
von Bruchstücken zweier holländischer Titelkupfer zu Böhme und
S. 62). Es ist uns bis jetzt nicht gelungen, ein Zeugnis zu gewinnen,
daß Runge so wie Meissen auch Freiberg besucht hat. Aber
bei der Nähe von Dresden und der Mannigfaltigkeit der Denk-
mäler im Freiberger Dom (von der Goldenen Pforte angefangen),
wäre eine solche Annahme nicht verwegen. Den Beleg gibt eines
der Rahmenmotive, das sich — nicht in den gestochenen Ent-
würfen der Tageszeiten, wie sie Runge auch Goethe 1806 vor-
legte, findet, aber im Rahmen der gemalten Ausführung von 1808.
Die nebenstehenden Bilder zeigen, daß eine Anregung von der
sogenannten Tulpenkanzel des Freiberger Domes ausgegangen ist.
In der romanisch-gotischen Marien- und späteren Domkirche
zu Freiberg in Sachsen scheint nach chronikalischer Überlieferung
die Tulpenkanzel dem 1480 geweihten Neubau anzugehören, da
die neue Kirche über die Maßen ,,mit ein kunstreich Predig-
stuhl usw. geziert" genannt wird (Steche in der Beschreibenden
Darstellung der Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen
3. Heft, S. 34). Kurz darnach, 1484, wurde die Kirche von einem
Brand heimgesucht, stark verändert wiedergebaut und 1501 neu
geweiht, so daß man versucht wäre, an einen Irrtum der Über-
lieferung zu glauben und das Datum der Kanzel statt um 1480
in das neue Jahrhundert zu setzen. Bezeichnenderweise hat sich
Runge zwar das Motiv des zwischen rund ausgebogene Gitter-
stäbe gesetzten nackten Kindes gemerkt, aber den Aufbau des
Pflanzengebäudes verändert und eine wirkliche Pflanze gegeben.
Die populäre Bezeichnung Tulpenkanzel trifft das Tatsächliche
nur sehr ungefähr. Es ist kein schlanker Stengel, sondern ein
Stamm vorhanden, und der Blumenkelch ist mit Halbfiguren der
vier Kirchenväter besetzt, die aus dem Geschlinge eines aus
Distelblättern geflochtenen Ornaments herauswachsen. Man kann
nicht viel mehr sagen, als schon Waagen (Kunstwerke und Künst-
ler in Deutschland, I 13) gesagt hat: ,,Das der gotischen Bau-
kunst innewohnende vegetative Prinzip ist zu einer förmlichen
Nachahmung aus der Pflanzenwelt ansgestaltet. Die Kanzel hat
das Ansehen eines großen Blumengewächses." BlätteH und Stengel,
^ Es sind sogenannte gegenständige Biätter (im Unterschied von
wechselständigen).
 
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