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ALFRED DOVE:
lichen Frische konserviert, der moralische Vorteil der Offensive
ihnen zugeschoben, der auf sie ausgeübte Reiz der schätzereichen
Kulturwelt durch die Absperrung eher noch erhöht^. Gegen
ihren deshalh immer mächtiger anschwehenden Zudrang suchte
sich das sinkende Reich fast vier Jahrhunderte lang hauptsächlich
dadurch mit leidiichem Erfolge zu schützen, daß es in beständig
wachsender Anzahl Barbaren oder Gentilen, wie man es nannte,
d. h. einzelne Leute aus den — nach griechischem Sprachgebrauch
barbarischen — gentes in seinen eigenen Wehrdienst aufnahm.
Nur daß dieselben trotz aller Zucht und Iiriegskunst den gentes
selbst auf die Dauer nicht gewachsen waren; denn jene büßten die
Volkskraft ein, welche diese in ihrer Gemeinschaft bewahrten.
Kaum hatte die erste wirkfiche gens — oder thiuda, um den näm-
lichen Begriff auch einmal in ihrem eigenen Gotisch auszudrücken,
— den Reichsboden in geschlossener Masse betreten, so brach ein
neues Weltalter an. Nachdem der Damm an einer Stelle definitiv
durchrissen, trat eine alfgemeine Überflutung ein; ein Rückfalf
der Geschichte, wie es schien, in das ethnoiogische Chaos der Ur-
vergangenheit. Eines der gelehrtesten und lehrreichsten Bücfier,
wefche die moderne historische Literatur über diese Zeiten aufzu-
weisen hat^, ist denn in der Tat rein ethnographisch gehalten und
besteht fast ausschließlich aus einer nach Gentilnamen geordneten
Sammlung von mannigfachen zur AVlkerkunde gehörigen Notizen
alter Schriftstelfer. Denn natürlich wimmeln die Quellen des
Zeitalters selbst, seien sie gnechischen, römischen oder barbari-
schen Ursprunges, von Erwähnungen und Schilderungen der ε9νη
oder gentes, ihrer Bewegungen und Bestrebungen, Taten und
Untaten. Haben wir doch aus jenen Tagen auch eine Reihe kleiner
Völkertafeln übrig, die augenscheinlich zum Zwecke der Orien-
tierung in dieser wieder bunt gewordenen Welt entworfen wurden.
,,Gentes barbarae, quae pulluiaverunt sub imperatoribus, Barbaren-
^ Sehr gut bezeichnet die geographisch-historische Situation, wenn auch
in seiner Weise mit theologischem Kolorit, Orosius (VII, 22), indem er die
noch einmal mtihsam überstandene Krisis des Reiches um die Mitte des 3.
Jahrhunderts mit den Worten eini'ührt: solvuntur repente undique permissu
Dei ad hoc (zur gelegentlichen Bestrafung der Ghristenverfolger) circum-
positae relic.taeque gentes laxatisque habenis in omnes Romanorum fines
invehuntur. —- Ansprechend, wiewohl mit Übertreibung, behandelt ARNOLD
(Deutsche Gesch. I, Kap. 3) ,,den Pfahlgraben und seine Bedeutung" für die
Entwicklung der deutschen Stämme.
^ K. ZEuss, Die Deutschen und die Nachbarstämme, München 1837.
ALFRED DOVE:
lichen Frische konserviert, der moralische Vorteil der Offensive
ihnen zugeschoben, der auf sie ausgeübte Reiz der schätzereichen
Kulturwelt durch die Absperrung eher noch erhöht^. Gegen
ihren deshalh immer mächtiger anschwehenden Zudrang suchte
sich das sinkende Reich fast vier Jahrhunderte lang hauptsächlich
dadurch mit leidiichem Erfolge zu schützen, daß es in beständig
wachsender Anzahl Barbaren oder Gentilen, wie man es nannte,
d. h. einzelne Leute aus den — nach griechischem Sprachgebrauch
barbarischen — gentes in seinen eigenen Wehrdienst aufnahm.
Nur daß dieselben trotz aller Zucht und Iiriegskunst den gentes
selbst auf die Dauer nicht gewachsen waren; denn jene büßten die
Volkskraft ein, welche diese in ihrer Gemeinschaft bewahrten.
Kaum hatte die erste wirkfiche gens — oder thiuda, um den näm-
lichen Begriff auch einmal in ihrem eigenen Gotisch auszudrücken,
— den Reichsboden in geschlossener Masse betreten, so brach ein
neues Weltalter an. Nachdem der Damm an einer Stelle definitiv
durchrissen, trat eine alfgemeine Überflutung ein; ein Rückfalf
der Geschichte, wie es schien, in das ethnoiogische Chaos der Ur-
vergangenheit. Eines der gelehrtesten und lehrreichsten Bücfier,
wefche die moderne historische Literatur über diese Zeiten aufzu-
weisen hat^, ist denn in der Tat rein ethnographisch gehalten und
besteht fast ausschließlich aus einer nach Gentilnamen geordneten
Sammlung von mannigfachen zur AVlkerkunde gehörigen Notizen
alter Schriftstelfer. Denn natürlich wimmeln die Quellen des
Zeitalters selbst, seien sie gnechischen, römischen oder barbari-
schen Ursprunges, von Erwähnungen und Schilderungen der ε9νη
oder gentes, ihrer Bewegungen und Bestrebungen, Taten und
Untaten. Haben wir doch aus jenen Tagen auch eine Reihe kleiner
Völkertafeln übrig, die augenscheinlich zum Zwecke der Orien-
tierung in dieser wieder bunt gewordenen Welt entworfen wurden.
,,Gentes barbarae, quae pulluiaverunt sub imperatoribus, Barbaren-
^ Sehr gut bezeichnet die geographisch-historische Situation, wenn auch
in seiner Weise mit theologischem Kolorit, Orosius (VII, 22), indem er die
noch einmal mtihsam überstandene Krisis des Reiches um die Mitte des 3.
Jahrhunderts mit den Worten eini'ührt: solvuntur repente undique permissu
Dei ad hoc (zur gelegentlichen Bestrafung der Ghristenverfolger) circum-
positae relic.taeque gentes laxatisque habenis in omnes Romanorum fines
invehuntur. —- Ansprechend, wiewohl mit Übertreibung, behandelt ARNOLD
(Deutsche Gesch. I, Kap. 3) ,,den Pfahlgraben und seine Bedeutung" für die
Entwicklung der deutschen Stämme.
^ K. ZEuss, Die Deutschen und die Nachbarstämme, München 1837.