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Gustav Neckel:
bar hat auch die widersprechende Schilderung der Völuspä mit-
gewirkt, die ja Surt und die Muspellz lijdir trennt, indem sie
jenen durch die Luft von Süden, diese zu Schiffe von Osten kom-
men läßt. Diese Auffassung der Völuspä hängt zusammen mit
der Vielheit von Feinden, die sie auftreten läßt. Nach allen anderen
eddischen Quellen sind die Feinde der Götter eine Einheit, die
bald als Surt erscheint, bald als die Muspellssöhne, bald als die
'Zerstörer5 oder 'Spalter5 (riüfendr, Vegtamskviöa, vgl. das öftere
riüjaz regin und aldar rof), bald als der Wolf; die Lokasenna,
deren Zeugnis durch die Surtstrophe der Völuspä gestützt wird,
sagt deutlich, daß der Feindetrupp von Süden kommt, nicht,
wie in der Völuspä, von Osten und Süden zugleich. Die anderen
Quellen haben also die einfache Vorstellung, Völuspä die zu-
sammengesetzte. Ziehen wir noch den enzyklopädischen Aufbau
der gesamten Völuspä in Betracht, so werden wir nicht zweifeln,
daß diese eine spätere Entwicklungsstufe der Ragnarökvor-
stellungen darstellt. Sie kombiniert verschiedene Auffassungen
vom Ragnarök zu einem Ganzen. Der Ritt Surts mit den Muspells-
söhnen genügt ihr nicht. Sie will auch der Weltschlange, dem
Fenriswolf, dem losgekommenen Loki und anderen Vernichtungs-
wesen sichtbare Plätze geben. Dazu dient ihr das Motiv von dem
Dämonenschiff, das über die von der Mittgartschlange gepeitschte
See gefahren kommt. Das Schiff wird mit den furchtbarsten
Unholden bemannt: Loki sitzt am Steuer, auch der Wolf ist an
Bord und mit ihm alle fifls megir, das sind die Muspellz megir,
die bekannte zerstörungswütige Schar. Man sieht, wozu der Dich-
ter die Muspellssöhne braucht: sie dienen ihm, sein Schiff des
Schreckens auszustaffieren. Woher er dies Schiff hat, ist bisher
nicht nachgewiesen. Erfunden hat er es nicht. Denn es ist über-
liefert, daß im Jahre 1340 eine mit Dämonen bemannte Galeere
die Stadt Venedig mit Vernichtung bedrohte, bis sie von drei
Heiligen beschworen wurde1. Es handelt sich also um ein Wander-
motiv, das dem Völuspädichter zugekommen ist. Anscheinend
war es zu seiner Zeit im Norden neu, denn es kommt sonst in älte-
ren nordischen Quellen nirgends vor, und der Dichter gibt sich
sichtlich große Mühe, es in den Kreis der älteren Ragnarökvor-
stellungen einzufügen. Daß die ältere Vorstellung von dem grauen
Wolf, der Odin verschlingen soll, nicht die des zu Schiffe fahrenden
1 Burckhardt, Kultur der Renaissance S. 530.
Gustav Neckel:
bar hat auch die widersprechende Schilderung der Völuspä mit-
gewirkt, die ja Surt und die Muspellz lijdir trennt, indem sie
jenen durch die Luft von Süden, diese zu Schiffe von Osten kom-
men läßt. Diese Auffassung der Völuspä hängt zusammen mit
der Vielheit von Feinden, die sie auftreten läßt. Nach allen anderen
eddischen Quellen sind die Feinde der Götter eine Einheit, die
bald als Surt erscheint, bald als die Muspellssöhne, bald als die
'Zerstörer5 oder 'Spalter5 (riüfendr, Vegtamskviöa, vgl. das öftere
riüjaz regin und aldar rof), bald als der Wolf; die Lokasenna,
deren Zeugnis durch die Surtstrophe der Völuspä gestützt wird,
sagt deutlich, daß der Feindetrupp von Süden kommt, nicht,
wie in der Völuspä, von Osten und Süden zugleich. Die anderen
Quellen haben also die einfache Vorstellung, Völuspä die zu-
sammengesetzte. Ziehen wir noch den enzyklopädischen Aufbau
der gesamten Völuspä in Betracht, so werden wir nicht zweifeln,
daß diese eine spätere Entwicklungsstufe der Ragnarökvor-
stellungen darstellt. Sie kombiniert verschiedene Auffassungen
vom Ragnarök zu einem Ganzen. Der Ritt Surts mit den Muspells-
söhnen genügt ihr nicht. Sie will auch der Weltschlange, dem
Fenriswolf, dem losgekommenen Loki und anderen Vernichtungs-
wesen sichtbare Plätze geben. Dazu dient ihr das Motiv von dem
Dämonenschiff, das über die von der Mittgartschlange gepeitschte
See gefahren kommt. Das Schiff wird mit den furchtbarsten
Unholden bemannt: Loki sitzt am Steuer, auch der Wolf ist an
Bord und mit ihm alle fifls megir, das sind die Muspellz megir,
die bekannte zerstörungswütige Schar. Man sieht, wozu der Dich-
ter die Muspellssöhne braucht: sie dienen ihm, sein Schiff des
Schreckens auszustaffieren. Woher er dies Schiff hat, ist bisher
nicht nachgewiesen. Erfunden hat er es nicht. Denn es ist über-
liefert, daß im Jahre 1340 eine mit Dämonen bemannte Galeere
die Stadt Venedig mit Vernichtung bedrohte, bis sie von drei
Heiligen beschworen wurde1. Es handelt sich also um ein Wander-
motiv, das dem Völuspädichter zugekommen ist. Anscheinend
war es zu seiner Zeit im Norden neu, denn es kommt sonst in älte-
ren nordischen Quellen nirgends vor, und der Dichter gibt sich
sichtlich große Mühe, es in den Kreis der älteren Ragnarökvor-
stellungen einzufügen. Daß die ältere Vorstellung von dem grauen
Wolf, der Odin verschlingen soll, nicht die des zu Schiffe fahrenden
1 Burckhardt, Kultur der Renaissance S. 530.