Metadaten

Cartellieri, Otto; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 6. Abhandlung): Charles Rogier — Heidelberg, 1919

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37683#0020
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
20

Otto Cartellieri:

mitgenommen. Das Aufkommen der Fabriken, welche die Leine-
weberei der Heimarbeiter vernichteten, sowie die Kartoffelkrank-
heit hatten furchtbares Elend zur Folge. Typhus und Hungersnot,
Landstreichertum, Bettelei und Auswanderung führten zu einer
bedenklichen Abnahme der Bevölkerung, ln vielen Dörfern war
im Jahre 1847 die Sterblichkeitsziffer dreimal so groß als die der
Geburten. Die Städte verschlossen den Ausgehungerten ihre Tore.
In der Kammer hatte es dieserhalb schon oft heiße Köpfe ge-
geben. Warum war in den Handelsverträgen die flandrische Leine-
weberei nicht ebenso geschützt worden wie die wallonische Metall-
industrie und Kohlenförderung? 1846 rief ein Abgeordneter:
,,La race flamande serait-elle d’une nature inferieure comme les
races africaine ou americaine ?“
Mit Umsicht und Eifer ging Rogier an die schwierige Aufgabe
heran. Er ließ es an reichlicher Unterstützung nicht fehlen, aber
vor allem wollte er den Bedrängten eine lohnende Arbeitsmöglich-
keit geben, welche ihre Schaffensfreude sicherer hervorrufen würde
als staatliche Almosen. In kurzer Zeit entstanden zahlreiche neue
Werkstätten, die den modernen Ansprüchen genügten und be-
sonders die nötige größere Mannigfaltigkeit der Erzeugnisse
förderten. Dazu kamen Neuanlagen von Wegen und Straßen,
von Eisenbahnen und Kanälen, die auch den abseits gelegenen
Elandrern eine Verbindung mit den Nachbarn brachten.
Diese Maßnahmen waren von Erfolg gekrönt, Rogier ist als
,,Retter Flanderns“ gepriesen worden. Für die seit kurzem kräftig
einsetzende flämische Bewegung ist er nicht eingetreten. Bekannt
sind seine Worte aus dem Jahre 1832, als die Verfolgung des Fran-
zösischen durch die Holländer in aller Erinnerung war: Die Belgier
müssen eine einheitliche Sprache, das Französische, haben. Alle
Beamte müssen Wallonen oder Luxemburger sein und die Flamen
gezwungen werden, Französisch zu lernen. Der germanische Bestand-
teil in Belgien muß mit der Zeit verschwinden. So scharf urteilte
Rogier jetzt nicht mehr, seit zwei Dezennien bestand Belgien, keine
Hollandisierung drohte mehr, alles Holländische brauchte nicht mehr
schlechtweg verworfen zu werden. Eine Annäherung an Frank-
reich, die früher geboten war, galt es jetzt zu vermeiden. Eine
Förderung des Flamentums lag allerdings auch nicht im Sinne
Rogiers, für den der belgische Staatsgedanke die Richtschnur war
und blieb. Er dachte nicht an eine Unterdrückung der flämischen
Sprache, er wollte nicht ,,wallonisieren“, wie er einmal ausdrück-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften