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F. Boll:
Der reingriechische βίος θεωρητικός, die Vita contemplativa im
Sinne der klassischen Zeit, ist nichts anderes als das Schauen und
Sinnen des Denkers und Forschers, da anscheinend das Leben
des Künstlers so nicht benannt worden ist — vom Standpunkt
des Griechentums aus durchaus begreiflich: denn dieses Volk, dem
die Kunst zum Leben so notwendig war wie Licht und Luft, hat
sich äußerst wenig um die seelischen Vorgänge im bildenden
Künstler gekümmert, der ihm ein Handwerker, ein Banause blieb,
und ist selbst beim Dichter nicht allzuweit über die Vorstellung
der Inspiration, der göttlichen Eingebung, hinweggekommen.
Das Grundwort von θεωρητικός bezeichnet allgemein den
Beschauer oder Zuschauer, ist aber von jeher ganz beson-
ders für den gebraucht worden, der als Gesandter einer grie-
chischen Stadt zum Tempel, Orakel, Festspiel eines Gottes ging:
und da das griechische Volksempfinden, wie es scheint
schon zeitig, in dem ersten Bestandteile des zusammengesetzten
Wortes θεωρός das Wort für Gott, θεός, sah, so schwingt auch bei
seiner profanen Anwendung gerne wenn nicht ein leiser religiöser
Oberton, so doch die Erinnerung an das festliche Anschauen der
panhellenischen Kampfspiele mit. Θεωρεΐν bedeutet zunächst das
physische Schauen; dem Platon ist es für das geistige
Betrachten schon geläufig, obgleich er immer doch das
Bild noch durchfühlt. Bei Aristoteles zuerst ist θεωρητικός
gebraucht, eine bestimmte Lebenshaltung zu bezeichnen. Es han-
delt sich auch bei diesem „Schauen“ immer um ein aktives Leben,
das mit Energie erfüllt ist. ,,In Olympia genügt es nicht, stark
und schön zu sein; den Siegespreis gewinnt nur, wer darum kämpft“,
sagt Aristoteles in diesem Zusammenhänge. Lind an einer anderen
Stelle fügt er hinzu: „das tätige Leben braucht sich nicht nur
auf andere Menschen zu beziehen, wie manche meinen; und nicht
bloß die Gedanken sind praktisch, die um eines äußeren Zieles
wegen geschehen, sondern in viel höherem Grade das Schauen
und. Denken, das in sich abgeschlossen ist und seinen Zweck in
sich selbst hat.“ Der Handelnde im höchsten Sinne ist für Aristo-
teles der Schaffende, der das, was nach außen hin Gestalt werden
soll, vorher in seinen Gedanken aufbaut.
Einen ähnlichen geschichtlichen Verlauf wie das Wort vom
βίος θεωρητικός bei den Griechen spiegelt auch das lateinische
Wort, das Cicero und Seneca zu seiner Übertragung gewählt haben:
contemplatio, vita contemplativa. Das Verbum contemplo und
F. Boll:
Der reingriechische βίος θεωρητικός, die Vita contemplativa im
Sinne der klassischen Zeit, ist nichts anderes als das Schauen und
Sinnen des Denkers und Forschers, da anscheinend das Leben
des Künstlers so nicht benannt worden ist — vom Standpunkt
des Griechentums aus durchaus begreiflich: denn dieses Volk, dem
die Kunst zum Leben so notwendig war wie Licht und Luft, hat
sich äußerst wenig um die seelischen Vorgänge im bildenden
Künstler gekümmert, der ihm ein Handwerker, ein Banause blieb,
und ist selbst beim Dichter nicht allzuweit über die Vorstellung
der Inspiration, der göttlichen Eingebung, hinweggekommen.
Das Grundwort von θεωρητικός bezeichnet allgemein den
Beschauer oder Zuschauer, ist aber von jeher ganz beson-
ders für den gebraucht worden, der als Gesandter einer grie-
chischen Stadt zum Tempel, Orakel, Festspiel eines Gottes ging:
und da das griechische Volksempfinden, wie es scheint
schon zeitig, in dem ersten Bestandteile des zusammengesetzten
Wortes θεωρός das Wort für Gott, θεός, sah, so schwingt auch bei
seiner profanen Anwendung gerne wenn nicht ein leiser religiöser
Oberton, so doch die Erinnerung an das festliche Anschauen der
panhellenischen Kampfspiele mit. Θεωρεΐν bedeutet zunächst das
physische Schauen; dem Platon ist es für das geistige
Betrachten schon geläufig, obgleich er immer doch das
Bild noch durchfühlt. Bei Aristoteles zuerst ist θεωρητικός
gebraucht, eine bestimmte Lebenshaltung zu bezeichnen. Es han-
delt sich auch bei diesem „Schauen“ immer um ein aktives Leben,
das mit Energie erfüllt ist. ,,In Olympia genügt es nicht, stark
und schön zu sein; den Siegespreis gewinnt nur, wer darum kämpft“,
sagt Aristoteles in diesem Zusammenhänge. Lind an einer anderen
Stelle fügt er hinzu: „das tätige Leben braucht sich nicht nur
auf andere Menschen zu beziehen, wie manche meinen; und nicht
bloß die Gedanken sind praktisch, die um eines äußeren Zieles
wegen geschehen, sondern in viel höherem Grade das Schauen
und. Denken, das in sich abgeschlossen ist und seinen Zweck in
sich selbst hat.“ Der Handelnde im höchsten Sinne ist für Aristo-
teles der Schaffende, der das, was nach außen hin Gestalt werden
soll, vorher in seinen Gedanken aufbaut.
Einen ähnlichen geschichtlichen Verlauf wie das Wort vom
βίος θεωρητικός bei den Griechen spiegelt auch das lateinische
Wort, das Cicero und Seneca zu seiner Übertragung gewählt haben:
contemplatio, vita contemplativa. Das Verbum contemplo und