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Boll, Franz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 8. Abhandlung): Vita contemplativa: Festrede zum zehnjährigen Stiftungsfeste der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Stiftung Heinrich Lanz — Heidelberg, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.37775#0009
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Yita Contemplativa.

9

Ephesos, cles Pöbelhassers, cler mit Ekel und Verachtung sich von
der Stadt abwendet, wo sie sprechen: „Bei uns soll keiner der Beste
sein; gibts aber einen, so sei ers anderswo und bei anderen“, und
der dann in die Einsamkeit der Berge sich zurückzieht. Er und
sein großes Gegenbild Parmenides haben beide jenen grenzenlosen
Mut zum Anderssein, zur Paradoxie,·zur Abstraktion, zur Absage
an den bloßen Sinnenschein, alle die Eigenschaften, die von jeher
den Widerstand der Menge in ihrer platten Verständigkeit heraus-
gefordert haben.
Mit dem Ionier Anaxagoras tritt, diese neue Art von Menschen
in ein unvergleichlich waches und bildungsfähiges, aber auch miß-
trauisches Volk, auf den Boden von Athen. Nur der Erforschung
der Wahrheit hingegeben, lebt dieser ehrwürdige Fremdling dort
im Verkehr mit dem großen Staatsmann, dem Perikies, der ihm, wie
man glaubte, den hohen Ernst und die Reinheit seines Wesens zu dan-
ken hatte. Mit Gleichgültigkeit trägt er den Verlustseines Vermögens,
in ruhiger Gelassenheit den Tod seiner Söhne und zuletzt die Ver-
bannung aus Athen; das Anschauen des Himmels und der großen
Ordnung im Weltall und die geistige Freiheit, die er sich daraus
gewinnt, gilt ihm allein als der Sinn seines Lebens.
Und ungefähr zur selben Zeit, wo er Athen verlassen muß,
tritt ein anderer ins volle Licht der Öffentlichkeit, der freilich so
einziger Art ist, daß kein Typus ihn irgendwie umfaßt und noch
heute niemand sich mit ihm auseinandersetzen kann, ohne das
Persönlichste seines eigenen Wesens zu verraten: der Athener
Sokrates. Und doch trägt auch er, der unaufhörlich und unersätt-
lich sich im Gedränge des Marktes, im Gespräch mit .Menschen
aller Art bewegt, so viele bezeichnende Züge des rein theoretischen
Lebens an sich. Er kommt außer bei Feldzügen kaum je über die
Mauern seiner Vaterstadt hinaus. Er vernachlässigt sein eigenes
Hauswesen bis zur völligen Verarmung und verschmäht es, in die
politischen Tageskämpfe seiner Heimat, außer im äußersten
•Notfall, wenn die Pflicht ihn ruft, hinabzusteigen, weil ihm die
Aufgabe, die der Gott ihm gestellt hat, keine Zeit dazu läßt, aber
auch weil er weiß, daß ein Mensch seiner Art unter der Herrschaft
der Masse nutzlos sich verbrauchen müßte, wenn er in die Politik
einträte. Und mit dem Worte seiner Verteidigungsrede, daß ihm
ein Leben ohne Forschung nicht lebenswert sei, verkörpert er, der
für seine Überzeugung in ruhiger Heiterkeit, ohne das Pathos
des Märtyrers stirbt, noch einmal den heroischen Typus des Weisen.
 
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