Metadaten

Boll, Franz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 8. Abhandlung): Vita contemplativa: Festrede zum zehnjährigen Stiftungsfeste der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Stiftung Heinrich Lanz — Heidelberg, 1920

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37775#0015
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vita Contemplativa.

15

Dieser leidenschaftliche Ansbruch, der eine nicht mehr zu
überbrückende Kluft wie zwischen zwei feindseligen Welten auf-
zutun scheint, hat Platon nicht gehindert, sehr kurze Zeit darauf
die Verwirklichung seines ganz und gar nicht als Utopie gedachten
Staatsideals zwar nicht in der Demokratie seiner Heimat, aber
an dem Hofe des jungen Gewaltherrschers von Syrakus zu ver-
suchen und damit die schmerzlichste Enttäuschung seines Lebens
herbeizuführen. Es war ein Opfer, das er der Pflicht gebracht hat,
wie in seinem vollkommenen Staate die Wissenden die Herrschaft
führen müssen, ein Hinabsteigen von lichtester Höhe in das Dunkel
der Wirklichkeit, das ihnen dennoch nicht erspart bleiben darf,
wenn sie ihre Pflicht gegen die sittliche Idee des Staates erfüllen
sollen. Der bloß praktisch tätige Mensch aber, ohne Muße, ohne
σχολή und άπραγμοσύνη, ist für Plato gegenüber dem, der nach
eigenem inneren Gebot das Ewige und Wesenhafte schaut, nur
wie der Sklave gegenüber dem wahrhaft Freien. Darum steht für
den platonischen Sokrates im Phaidros das Lebenslos dessen, der
die Weisheit und das Schöne liebt und den Musen und dem Eros
dient, vor allen anderen. Ihm allein ist die volle Eudämonie
gegeben; die anderen streben nur dem Schattenbild der Helena
nach.
Der Pessimismus, den der Grieche dem praktischen Leben
gegenüber so stark empfindet, hat hier keine Stelle. Der tragische
Moment in Platons Phaidon, wo dem todgeweihten Sokrates durch
scharfsinnige Einwände eines Mitunterredners der schon gewon-
nene Beweis der Unsterblichkeit wieder zu zerrinnen scheint,
fordert ihn nur dazu auf, mit besonderer Wärme vor der Misologie,
vor dem Haß gegen die wissenschaftliche Untersuchung zu warnen,
auch wenn ihre Ergebnisse noch so unwillkommen sein sollten.
Selbst der vollkommene Skeptiker des Altertums ist überzeugt,
daß ihn sein Weg zum wahren Frieden führt, zur unerschütter-
lichen Ruhe der Seele; Fausts Qual bei der Einsicht, nichts wissen
zu können, die ihm schier das Herz verbrennen will, ist ganz und
gar nicht antik.
Durch volle tausend Jahre, vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis
zum letzten Erben der antiken Kultur, zu Boethius, dem noch im
Kerker die Erkenntnis der Natur und des Wesens der Dinge
Trost spendet und Flügel leiht, reißt die Kette der Verherrlichungen
des. theoretischen Lebens als des einzig wahrhaft beglückenden
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften