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Gerhard Ritter:
ließ. Aus der Erfassung dieser ewigen Wahrheiten durch den
menschlichen Geist leitete die ältere Franziskanerschule mit
Augustin die Gewißheit unseres Denkens ab; und auch Thomas
ließ die Ideen der Dinge als Gedanken Gottes, als „reine Formen1"
und Urheber der niederen Formen gelten. Während er aber, im
Zusammenhang seiner realistischen Grundanschauung, den all-
gemeinen Ideen vor den besonderen die metaphysische Priorität
und den Ideen überhaupt eine von den Dingen gesonderte Existenz
im göttlichen Geiste zuschrieb, gleichsam als Mittler der göttlichen
Erkenntnis (species intelligibiles), lehnten Duns Skotus und Okkam
diese Sonderexistenz ab und wollten in den Ideen Gottes nichts
anderes sehen, als die Dinge selbst, als Gedanken Gottes aufgefaßt.
In dieser seltsam anmutenden Kontroverse kam doch nichts Gerin-
geres zum Ausdruck als das innere Verhältnis der verschiedenen
Schulrichtungen zur neuplatonischen Ideenlehre. Der intellektuali-
stische Realismus des Thomas stand — wie das extreme Beispiel
des Thomisten Eckhart zeigt — dieser Lehre doch innerlich näher,
als der energische Individualismus und Voluntarismus der beiden
Engländer. Die allgemeinen Ideen der Dinge besaßen für Thomas
im Geiste Gottes ihre metaphysische Priorität vor der kreatür-
lichen Erscheinung (ante res); demgegenüber zeigte sich der Nomi-
nalismus Okkams am schroffsten gerade darin, daß er nur die
Einzeldinge sich in der göttlichen Erkenntnis abspiegeln ließ.
Höchst bezeichnend ist deshalb die Antwort des Marsilius von
Inghen auf diese Fragen1. Die gesonderte Existenz der Univer-
salien im Sinne Platos lehnt er als echter Nominalist natürlich ab2.
Aber obwohl er die innere Verwandtschaft zwischen Plato und
Augustin deutlich erkennt3, folgt er doch in der Auffassung der
göttlichen Ideen dem Thomas und Heinrich von Gent unter
längerer Polemik gegen Okkam. Die Ideen sind nichts anderes als
die göttliche Wesenheit selbst, und deshalb von innen her betrachtet
(intrinsece) eine ungeschiedene Einheit, aber von außen betrachtet
(extrinsece), d. h. als Objekte des göttlichen Geistes eine unendliche
1 Abgehandelt in den Einleitungsquäshonen zu den drei ersten Büchern
des Sentenzenwerkes, die nach akademischem Brauch als eine Art von Antritts-
vorlesungen des Sentenziars ausgestaltet sind, einige Verbeugungen vor den
theologischen Lehrern des Vortragenden enthalten und eine Masse akademi-
schen Schulstoffes anhäufen.
2 L. I, qu. 1, a. 1, Bl. 2.
3 Art. I, not. 3, conditiones nr. 12 (Bl. 2, c).
Gerhard Ritter:
ließ. Aus der Erfassung dieser ewigen Wahrheiten durch den
menschlichen Geist leitete die ältere Franziskanerschule mit
Augustin die Gewißheit unseres Denkens ab; und auch Thomas
ließ die Ideen der Dinge als Gedanken Gottes, als „reine Formen1"
und Urheber der niederen Formen gelten. Während er aber, im
Zusammenhang seiner realistischen Grundanschauung, den all-
gemeinen Ideen vor den besonderen die metaphysische Priorität
und den Ideen überhaupt eine von den Dingen gesonderte Existenz
im göttlichen Geiste zuschrieb, gleichsam als Mittler der göttlichen
Erkenntnis (species intelligibiles), lehnten Duns Skotus und Okkam
diese Sonderexistenz ab und wollten in den Ideen Gottes nichts
anderes sehen, als die Dinge selbst, als Gedanken Gottes aufgefaßt.
In dieser seltsam anmutenden Kontroverse kam doch nichts Gerin-
geres zum Ausdruck als das innere Verhältnis der verschiedenen
Schulrichtungen zur neuplatonischen Ideenlehre. Der intellektuali-
stische Realismus des Thomas stand — wie das extreme Beispiel
des Thomisten Eckhart zeigt — dieser Lehre doch innerlich näher,
als der energische Individualismus und Voluntarismus der beiden
Engländer. Die allgemeinen Ideen der Dinge besaßen für Thomas
im Geiste Gottes ihre metaphysische Priorität vor der kreatür-
lichen Erscheinung (ante res); demgegenüber zeigte sich der Nomi-
nalismus Okkams am schroffsten gerade darin, daß er nur die
Einzeldinge sich in der göttlichen Erkenntnis abspiegeln ließ.
Höchst bezeichnend ist deshalb die Antwort des Marsilius von
Inghen auf diese Fragen1. Die gesonderte Existenz der Univer-
salien im Sinne Platos lehnt er als echter Nominalist natürlich ab2.
Aber obwohl er die innere Verwandtschaft zwischen Plato und
Augustin deutlich erkennt3, folgt er doch in der Auffassung der
göttlichen Ideen dem Thomas und Heinrich von Gent unter
längerer Polemik gegen Okkam. Die Ideen sind nichts anderes als
die göttliche Wesenheit selbst, und deshalb von innen her betrachtet
(intrinsece) eine ungeschiedene Einheit, aber von außen betrachtet
(extrinsece), d. h. als Objekte des göttlichen Geistes eine unendliche
1 Abgehandelt in den Einleitungsquäshonen zu den drei ersten Büchern
des Sentenzenwerkes, die nach akademischem Brauch als eine Art von Antritts-
vorlesungen des Sentenziars ausgestaltet sind, einige Verbeugungen vor den
theologischen Lehrern des Vortragenden enthalten und eine Masse akademi-
schen Schulstoffes anhäufen.
2 L. I, qu. 1, a. 1, Bl. 2.
3 Art. I, not. 3, conditiones nr. 12 (Bl. 2, c).