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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0134
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Gerhard Ritter:

134
Freiheit des göttlichen Willens, der über alle Naturordnung erhaben
ist. Beide verbinden diesen religiösen, aus Augustin übernommenen
Kerngedanken mit einer entschieden aristotelischen Weltauffas-
sung. Doch ist für Gregor, den Ordensgeneral der Augustiner-
eremiten und Theologen, die göttliche Allmacht noch mehr zentrales
Motiv des Denkens als für unseren Philosophen. Wir hörten schon,
daß er nicht davor zurückscheute, selbst die Möglichkeit der Schöp-
fung des actu Unendlichen zu bejahen (s. oben S. 84). In dieser
Richtung war ihm unser Aristoteliker nur auf halbem Wege gefolgt .
Aber auch Marsilius war der Meinung, Gott könne, wenn er wolle,
den ganzen Weltraum mit ungeformter Materie füllen, neben der
unseren noch andere Welten schaffen (s.o.S. 106), die Engel je nach
Willkür als individuelle Wesen oder als species gestalten; und ähn-
lich werden zahlreiche verwandte Rätselfragen des scholastischen
Weltsystems auf einfache Weise gelöst. Die Betonung der gött-
lichen Willkür war freilich auch ein Erbstück der skotistisch-
okkamistischen Tradition. Aber für Gregor wie für Marsilius ist
es bezeichnend, daß sie diese Willkür nicht wie Okkam zur grund-
sätzlichen Kritik an der rationalen Metaphysik, sondern zur end-
gültigen Entscheidung der metaphysischen Zweifelsfragen ver-
wenden. Beide sind Aristoteliker im Metaphysischen, Okkamisten
in der Erkenntnislehre, Augustiner in der Theologie.
In der Tat erörtert Marsilius die metaphysischen Einzelfragen
mit Vorliebe in Auseinandersetzung«mit den Augustinereremiten:
Egidius, Thomas von Straßburg, Gregor von Rimini. Wenn er
dagegen in der halb metaphysischen, halb physikalischen Frage
nach der Natur des Himmels ihre und Okkams fortgeschrittene
Auffassung (der Himmel besteht aus derselben geformten Materie
wie die sublunarische Sphäre) zugunsten einer älteren Theorie ver-
läßt, die sich dem Averroes enger anschließt (der Himmel ist frei
von irdischer Materie), so liegt es nahe, den Einfluß seines physi-
kalischen Lehrers Albert von Sachsen hierfür verantwortlich zu
machen1.
Bedeutsamer ist die Abweichung von Okkam in der meta-
physischen Psychologie. Hatte Thomas die menschliche Seele in
der Stufenfolge der aufsteigenden Formen als das verbindende
Mittelglied definiert, in dem sich geistige und materielle Welt
innerhalb einer einheitlichen forma begegnen, so war diese weit-
1 lib. sent. II, qu. 8, art. 1. Über die analoge Himmelstheorie Albert
v S. vgl. Duhem II, cap. 3 (Nik. Cusanus und Lionardo).
 
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