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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0135
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Studien zur Spätscholastik. I.

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tragende metaphysische Bestimmung von Duns Skotus und Okkam
wieder zerschlagen worden. Letzterer unterschied unter dem
starken Eindruck des Gegensatzes von Geistigkeit und Sinnlich-
keit in dem Menschenwesen drei gesonderte Formen: die geistige,
sinnliche und körperliche, obschon er im Grunde abgeneigt war,
überhaupt über die Konstatierung der mannigfaltigen Bewußtseins-
zustände hinauszugehen. Völlig eindeutig hält demgegenüber Mar-
silius an der thomistischen unitas formae fest. Zunächst bekämpft
er die franziskanische Annahme einer forma corporeitatis mit ganz
ähnlichen Argumenten, wie sie schon Thomas vorgebracht hatte:
es ist undenkbar, daß in demselben Individuum sich mehrere
substantielle Formen nebeneinander finden1. Die Annahme einer
solchen pluritas formarum überhaupt führt zu unnützen Verdop-
pelungen der Begriffe auch dann, wenn man die höheren Formen
zu den niederen in das Verhältnis des actus zur potentia setzt,
so daß die oberste als die abschließende Individualform erscheint.
Bei konsequenter Durchführung des Prinzips, jede Stufe auf dem
Wege vom genus, dem das Individuum angehört, bis zur species
specialissima durch eine besondere „Form“ repräsentiert zu denken,
würde man zu den absurdesten Begriffskonstruktionen, ja zu einer
unendlichen Vervielfachung der Formen gelangen2. Richtet sich
diese Polemik offensichtlich gegen die skotistische Lehre von den
formalitates (der doch bei Duns Skotus selber die psychologische
Lehre von der Einheit der seelischen Form, allerdings neben einer
gesonderten forma corporeitatis gegenüberstand), so wird in dem-
selben Zusammenhang auch die okkamistische Dreiheit der Formen
im menschlichen Individuum bekämpft. Die Unterscheidung einer
besonderen substantiellen „Form der Sinnlichkeit“ neben der
intellektiven Seele ist nicht nur aus den eben erörterten meta-
physischen Gründen hinfällig, sondern erschwert auch die theolo-
1 lib. sent. III, qu. 13, art. 1, concl. 2, Bl. 440, d.
2 Metaphys. lib. VII, qu. 14 (Register nr. 62), art. 1, not. 3, Bl. 104, c
(Darlegung der — ungenannten — skotistischen Lehre von der Stufenfolge
der formalitates im Individuationsprozeß). — Ibid. art. 2: Widerlegung dieser
Theorie. — De gen. et corr. I, qu. 6, art. 1: Non est ponenda pluralitas forma-
rum substantialium subordinatarum secundum ordinem predicatorum quiddi-
tativorum . . . quod in eodem composito tres essent formae vegitative [sc. nutritiva,
augmentativa, generativa?] et sic due superfluerent ... et due forme sensitive
[sc. apprehensiva et motrix?] usf. ins Unendliche. Ähnlich metaphys. 1. c. art.2,
concl. 3.
 
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