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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0004
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Hermann Oncken:

abgetrennt von aller menschlichen Kunde, auf einer verborgenen
Insel im Ozean liegend gedacht wird. Das Projektionsverfahren
an sich, mit dem freien Spielraum seiner Bewegung und der Inten-
sität seiner Wirkung, mag es auch heute schon zu einer verbrauch-
ten literarischen Form geworden sein, ist es allein, das diese Abart
der politischen Theorie von den üblicheren Gattungen unter-
scheidet. Nicht aber der Schein als solcher, das Unwirkliche und
Fabulöse, denn dieses kann in andern ganz schulmäßigen und
trockenen Versuchen — mögen sie sich auch noch so anspruchs-
voll als reine und streng wissenschaftliche Theorie geben —
ebensogut oder noch besser auf seine Rechnung kommen.
Es wird daher in der Geschichte der Staatslehre und der poli-
tischen Theorien vor allem darauf ankommen, zu ermitteln, in
welchem Maße ihre einzelnen Produktionen von der Wirklichkeit
des Lebens getränkt und beseelt sind, und weiter, welche Wirklich-
keiten diesen heißen Blutstrom erzeugten, der dem Gedanklichen
eine dauernde Lebenskraft für spätere Zeiten verleiht. Gewiß fehlt
in dieser Reihe auch der Homunculus in der Retorte nicht, bei dem
sich die Nachforschung nach der Herkunft wenig lohnt. Aber die
großen lebensfähigen Leistungen der politischen Theorie nähren sich
alle von dem Wechselverhältnis zwischen Leben und Idee, dessen
Erkenntnis der zentrale Punkt aller wissenschaftlichen Behandlung
der Staatslehre bleibt. Von den echten Utopien gilt das Gleiche.
Trotz ihrer scheinbar vollkommen durchgeführten Ablösung von
den konkreten irdischen Wirklichkeiten wurzeln sie doch in der
Regel in den Voraussetzungen einer ganz bestimmten Zeit und
eines ganz bestimmten Ortes, so daß auch ihre Bedeutung erst
durch den Nachweis dieses historischen Zusammenhangs wahrhaft
erfaßt werden kann.
Die Tatsache einer solchen Zeitgebundenheit scheint nun aller-
dings mit dem Ansprüche der politischen Theorie, möglichst all-
gemeingültige Ergebnisse vorzutragen, in einem innern Wider-
spruche zu stehen. Es läßt sich nicht leugnen, daß sie, soweit sie
sich als Staatslehre gibt, dazu neigt und neigen muß, gewisse
Sätze aufzustellen nicht über einen konkreten Staat, sondern über
den Staat als solchen, den normalen Staat oder gar den idealen
Staat. So wird sie die Frage nach der Entstehung, dem Wesen
und dem Zweck des Staates aufwerfen und sie mit allgemeingültigen
Abstraktionen, die religiös oder philosophisch, ethisch oder juristisch
begründet sein mögen, zu beantworten suchen. Je nach ihrem Aus-
 
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