Metadaten

Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0006
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
6

Hermann Oncken:

zuschieben sucht. Sie übersieht aber hei einem solchen Verfahren,
daß sie, wie die Naturwissenschaft den anfänglich isolierten Gegen-
stand ihrer Betrachtung hernach wieder in die Gesamtheit aller
seiner Lebensbedingungen einordnet, auch ihrerseits die Aufgabe
hat, eine entsprechende Einordnung zu vollziehen — wenn anders
sie zu einem wahrhaft biologischen Erfassen des Staates kommen
will. Es ist ebenso billig wie gedankenlos, aus dem Tempel des
Rechts oder der Vernunft, den die staatliche Doktrin erbaut, die
Welt der Macht als etwas Fremdes hinauszuweisen, wenn jede tiefer-
greifende Analyse ergibt, daß eben diese Macht in Wahrheit erst
die Fundamente sichert, auf denen die Harmonie des Tempelge-
bäudes sich zu erheben vermag. Eine Staatslehre würde also un-
vollkommen und zwar an der entscheidenden Stelle unvollkommen
sein, sie würde im wissenschaftlichen Sinne keine biologische Staats-
lehre sein können, wenn sie nicht der ganzen Problemwelt Herr
zu werden suchte, die sich aus den Beziehungen des Staates zu
andern Staaten ergibt.
Unsere Beobachtung wiederholt sich bei den Utopien, die ihre
von aller empirischen Wirklichkeit äußerlich abgelöste Phantasie
noch viel freier walten zu lassen vermögen: eben zu diesem Zwecke
haben sie ja ihren Staat aus aller nach Zeit und Ort konkreten
Wirklichkeit herausgeholt und in eine unwirkliche Welt hinein-
gestellt. So könnten sie noch leichter darauf verzichten, ihren Staat
auch als Staat unter Staaten zu sehen. Manche haben das leichten
Herzens getan oder nur obenhin eine Art von Umwelt erfunden,
in die sie auch ihr Gebilde einordnen; aber es erhellt, daß auf beiden
Wegen das Element der Fiktion des Ganzen ungebührlich gesteigert
wird. Vielmehr wird jede echte Utopie, die es mit ihren Problemen
ernst nimmt, nicht darum herumkommen, auch eine Auseinander-
setzung ihres Staatsideals mit den unvermeidlichen außenpoliti-
schen Lebensbedingungen zu versuchen und zu den Fragen: Innen
und Außen, Recht und Macht mit allen ihren gedanklichen Schwie-
rigkeiten Stellung zu nehmen. Entschließt sie sich aber dazu, so
betritt sie unweigerlich den Boden unutopischer Realitäten. In mehr
als einem solchen Falle wird eine eindringende Untersuchung fest-
stellen können, daß das Lebensblut, mit dem eine Utopie das Geschöpf
ihrer Phantasie nährt, gerade an dieser Stelle am ungestümsten klopft
— hier ist der Punkt, wo das Leben sich in das Ideal hineindrängt,
und hinter der Utopie die harte Wirklichkeit sich erhebt.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften