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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0008
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Hermann Oncken:

Lunden. Was ihn aber von Erasmus und vollends von den deutschen
Humanisten unterschied, ist das Eine: daß diese, Leute der Studier-
stube oder des Universitätsbetriebs, des fürstlichen Vorzimmers
oder des reichsstädtischen Rathauses, zumeist in das Literatenhafte
oder auch Schulmeisterliche zu versinken drohen, das ihre eigent-
liche Welt ist, während der Londoner Richter, schon in staatlichen
Traditionen aufgewachsen und erzogen, zugleich ein Mann des
Staates ist, der die Stadt London im Unterhause vertritt und von
der stärkenden Luft des öffentlichen Lebens seiner Nation umflossen
wird. An dieser Stelle sind die englischen Voraussetzungen von denen
des deutschen Lebens weit entfernt. Das Denken über den Staat
aber wird in erster Linie von der jeweiligen Entwicklungsstufe des
einzelnen Staates, von der politischen Erziehungsreife einer Nation
abhängen. Geschichtschreibung, Staatsrecht, Staatslehre, poli-
tische Theorie gehören nun einmal zu den geistigen Gewächsen,
die — anders als das reine Denken — Blut und Kraft aus diesem
nationalen Boden ziehen.
So ist denn auch die Utopia nicht allein ein Werk des Denkers,
des humanistischen Bildungsidealisten, sondern zugleich ein Werk
des Politikers Morus. Beide haben ihren Anteil daran. Wer den
einen von dem andern Anteil scheiden, die wechselseitige Durch-
dringung, Kreuzung und Spaltung der beiden Motivenreihen auf-
zeigen will, muß schon tief in die Entstehungsgeschichte und An-
lage dieses nicht auf den ersten Griff sich enthüllenden Buches ein-
dringen; aber auf diesem Wege allein kann der Utopia die ihr in
der Geschichte der Staatslehre zukommende wahre Stellung erst
angewiesen werden — vielleicht daß sich der Sockel, auf dem sie
steht, dadurch nur erhöht1.
Der Gedanke und der erste Entwurf der Utopia erwuchs dem
Morus während einer Gesandtschaftsreise, die er im Sommer und
Herbst 1515 im Auftrag der Krone nach den Niederlanden unter-
nahm. Nicht in einer stillen Studierstube, sondern während der
Verhandlungen über so nüchterne realpolitische Dinge wie einen

1 Ich glaube die Entstehungsgeschichte wie die Analyse des Buches in
einer deutschen Ausgabe der „Utopia“, die soeben — mit einer meinem Kol-
legen Gerhard Ritter verdankten Übersetzung — als erster Band einer von
Friedrich Meinecke und mir herausgegebenen Sammlung „Klassiker der
Politik“ (Berlin, Reimar Hobbing) erschienen ist, auf eine neue Grundlage
gestellt zu haben. Der Nachweis im einzelnen wird in einigen Studien erbracht
werden, die ich noch zu veröffentlichen gedenke.
 
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