Metadaten

Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0011
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Utopia des Thomas Morus.

11

these können gerade die zentralen Fragen aller Staatslehre, die
letztlich um das Problem Ideal und Leben kreisen, wahrhaft er-
leuchtet werden.

Aus der Fülle der Fragen, die sich hier ergibt, möchte ich aber
nur das eine Problem herausholen, von dem ich ausgegangen bin:
das Problem der innern und der äußern Staatssphäre, von Recht
und Macht. Wird das Idealbild der Utopia nur dadurch ermöglicht,
daß es isoliert wird, oder wird es sich irgendwo an einer sie umgeben-
den Wirklichkeit stoßen, und wenn das letztere der Fall ist, wird
es sein Wesen in dieser Berührung behaupten oder einbüßen, wird
an der entscheidenden Stelle der idealistische Denker oder der eng-
lische Politiker das letzte Wort behalten ?
Die prinzipielle Einstellung des Morus ist so eindeutig wie mög-
lich. Seine Staatskritik greift auch die englische Außenpolitik unter
Fleinrich VIII. erbarmungslos an. Um sie überhaupt diskutieren
zu können, hat er zu dem geschickten Umweg gegriffen, die ganz
analoge Praxis der Machtpolitik am französischen Hofe zu schil-
dern: Eroberungspläne, Schließung und Lösung von Bündnissen,
politische Heiraten, alles in ununterbrochenem treulosen Wechsel,
wie die politische Konjunktur es fordert. Morus zielt aber offen-
sichtlich damit auf die englische Kriegspolitik und Diplomatie selbst,
insbesondere auf den auch im Parlament lebhaft umstrittenen Plan
Heinrichs VIII., die alten französischen Erbansprüche zu erneuern
und England auf den Weg der kontinentalen Eroberungspolitik
zu führen. Darüber hinaus zielt er auf die skrupellose Renaissance-
politik der Zeit überhaupt, die uns unter dem Namen Machiavellis-
mus geläufig ist — Machiavelli hat freilich nur ein typisches Abbild
der Welt gegeben, die er um sich sah, und als solche, als vorhandene
Wirklichkeit akzeptierte. Morus aber sieht in einer imperialistischen
Kriegspolitik in England die Quelle aller sittlichen Schäden, aller
sozialen Nöte (bis in das Einhegen des Weidelandes und das Bauern-
legen hinein), aller fiskalischen Mißbräuche, kurzum eine Verzerrung
des obersten Staatszwecks. Indem er den Verzicht auf jede kon-
tinentale Eroberung fordert, setzt er dem Sein ein Sollen, der nach
außen orientierten Machtpolitik das höhere Ideal einer nach innen
orientierten Wohlfahrtspolitik gegenüber: der König ist für das
Wohl und Glück seiner Untertanen da, er soll nicht über Sklaven,
sondern über Freie herrschen. So empfangen wir eine tief empfun-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften