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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0013
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Die Utopia des Thomas Morus.

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erleichtert, daß Morus sich, wie auch andere kommunistische Theo-
retiker und Praktiker, mit einer wesentlich agrarischen Wirtschafts-
form und dementsprechend mit einer primitiven Gesellschaftskultur
begnügt. Alle diese Voraussetzungen gehören dazu, um jene Ratio-
nalisierung des Lebens im Idealstaat zu ermöglichen, wie sie dem
philosophischen Geiste gemäß ist. Morus müßte kein Engländer
sein, wenn er in der Durchführung im einzelnen nicht auch ge-
legentlich den Humor zur Geltung brächte. Immerhin sind Ein-
richtungen wie der sechsstündige Arbeitstag und die einfache Ein-
heitskleidung, die Schlachthäuser vor den Toren und die künst-
lichen Brutofen für Hühnereier (ungeachtet ihrer antiken Vorbilder)
ein Beweis dafür, daß auch ein geistreiches Spiel der Vernunft in
spätem Zeiten ungeahnte Verwirklichungen erleben kann.
Mögen die Voraussetzungen eines solchen Landes auch noch,
so künstlich und wirklichkeitsfremd sein, es kann nicht anders sein,
als daß seine Bewohner sich rechtlich und friedlich entwickeln.
Morus legt sogar soviel Wert darauf, diese gesunden Instinkte der
Utopier nicht zu verfälschen, daß er sie Beschäftigungen wie Metz-
gerei und Jagd durch ihre Sklaven betreiben läßt, woraus man auf
den Geist des Ganzen schließen kann. Ein solcher Staat, keiner
Verführung zur Macht unterliegend, kann nur ein Friedensstaat
sein; alles ist dazu angetan, den von Morus angestrebten reinen
Wohlfahrtsstaat dem reinen Machtstaat des Machiavell und der
Renaissance gegenüberzustellen: etwa wie Theopomp seine Stadt
Eusebes, Ehrfürchtig, der Stadt Machimos, Streitbar, gegenüber-
gestellt hat.
Das Charakteristische für die Utopia wird nun sein, daß die
Dinge trotz aller Isolierung den umgekehrten Verlauf nehmen. Die
sorgfältig abgelöste Außenwelt wird hernach doch wieder eingeführt;
nicht nur daß es zu einer Auseinandersetzung mit der Antike und
dem Christentum kommt, die der Erasmianer sich natürlich nicht
entgehen lassen konnte, sondern es werden auch fremde autonome
Sphären der Macht mit den Utopiern in Berührung treten und
nach den Gesetzen der Macht von ihnen bewältigt werden. Damit
beginnt das Problem, das uns beschäftigt, Leben zu gewinnen.
Den ersten Anstoß bietet die logisch nicht zu umgehende Mög-
lichkeit eines Bevölkerungszuwachses, der den Nahrungsspielraum
der vernünftigen und gesegneten Insel überschreitet. Diese Schwie-
rigkeit durch eine Rationalisierung des Geschlechtsverkehrs und
der Kinder er zeugung zu beheben, kommt für die kirchlich gebundene
 
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