14
Hermann Oncken:
Ethik des Autors nicht in Betracht. So bleibt ihm nur übrig, ein
dauerndes Abflußbecken für die Übervölkerung zu beschaffen, und
das ist gleichbedeutend mit einem grundsätzlichen Heraustreten
aus dem Reich der Vernunft und des Rechts in eine Sphäre der
Macht. Die Geschichte lehrt, daß das Problem der Bevölkerungs-
zunahme, der Land- und Nahrungsmangel von jeher eine der stärk-
sten treibenden Kräfte in den Machtverschiebungen, den Wander-
ungen und Ausweitungen der Völker, insofern eine ewige Quelle von
Politik und Krieg gewesen ist. So sieht Morus für seine Utopier
auch eine staatliche Kolonisation vor, indem aus jeder Stadt ein
bestimmter Prozentsatz der Bürgerliste entsandt wird auf einen
benachbarten Kontinent, wo ungenutztes Ackerland reichlich zur
Hand ist. Den Eingeborenen aber wird zur Wahl gestellt, ob sie
mit den utopischen Siedlern nach deren Gesetzen, d. h. ihrer Ge-
sellschaftsform gemäß, in Wahrheit also unter ihrer Herrschaft, Zu-
sammenleben wollen oder nicht: wollen sie nicht, so werden sie aus
ihrem Gebiete getrieben und enteignet. Leisten sie Widerstand, so
kommt es zur Gewalt und zum Krieg, denn die Utopier „halten
es für einen höchst gerechten Kriegsgrund, wenn ein Volk Nutzung
und Besitz des Bodens, den es selber nicht braucht, sondern wüst
und ungenutzt liegen läßt, einem andern untersagen wollte, das
nach der Vorschrift der Natur seinen Unterhalt davon ziehen sollte.“
Damit stehen wir zum ersten Male vor dem Kriege und zwar
vor einer naturrechtlichen Begründung des gerechten Krieges. Wie
dehnbar gerade diese ist, erhellt z. B. aus der Erinnerung, daß das
,,ex naturae prescripto“ des Morus fast wörtlich dem „jusqu’aux
bornes que prescrit la nature“ entspricht, mit dem die französische
Revolution 1792 die Rheingrenze forderte. Und so handelte es
sich denn auch für den Engländer in diesem Falle nicht allein um
eine logisch nicht zu umgehende Konsequenz, sondern um einen
Widerhall realer englischer Pläne, mit denen zum ersten Male in
die Utopia das Blut des Lebens einströmt. Morus spielt nämlich
augenscheinlich — den näheren Nachweis behalte ich mir für eine
andere Stelle vor — auf bestimmte Kolonisationsprojekte nicht
etwa in Nordamerika, woran man ja auch denken könnte, sondern
in Irland an. Wir finden in den „State papers“ gerade aus den
Monaten, in denen Morus an der Utopia schrieb, eine der Krone
eingereichte amtliche anonyme Denkschrift über die Kolonisation
Irlands (Okt. 1515), die in wesentlichen Einzelzügen die Situation
der utopischen Siedler wiederspiegelt; sogar die utopische Be-
Hermann Oncken:
Ethik des Autors nicht in Betracht. So bleibt ihm nur übrig, ein
dauerndes Abflußbecken für die Übervölkerung zu beschaffen, und
das ist gleichbedeutend mit einem grundsätzlichen Heraustreten
aus dem Reich der Vernunft und des Rechts in eine Sphäre der
Macht. Die Geschichte lehrt, daß das Problem der Bevölkerungs-
zunahme, der Land- und Nahrungsmangel von jeher eine der stärk-
sten treibenden Kräfte in den Machtverschiebungen, den Wander-
ungen und Ausweitungen der Völker, insofern eine ewige Quelle von
Politik und Krieg gewesen ist. So sieht Morus für seine Utopier
auch eine staatliche Kolonisation vor, indem aus jeder Stadt ein
bestimmter Prozentsatz der Bürgerliste entsandt wird auf einen
benachbarten Kontinent, wo ungenutztes Ackerland reichlich zur
Hand ist. Den Eingeborenen aber wird zur Wahl gestellt, ob sie
mit den utopischen Siedlern nach deren Gesetzen, d. h. ihrer Ge-
sellschaftsform gemäß, in Wahrheit also unter ihrer Herrschaft, Zu-
sammenleben wollen oder nicht: wollen sie nicht, so werden sie aus
ihrem Gebiete getrieben und enteignet. Leisten sie Widerstand, so
kommt es zur Gewalt und zum Krieg, denn die Utopier „halten
es für einen höchst gerechten Kriegsgrund, wenn ein Volk Nutzung
und Besitz des Bodens, den es selber nicht braucht, sondern wüst
und ungenutzt liegen läßt, einem andern untersagen wollte, das
nach der Vorschrift der Natur seinen Unterhalt davon ziehen sollte.“
Damit stehen wir zum ersten Male vor dem Kriege und zwar
vor einer naturrechtlichen Begründung des gerechten Krieges. Wie
dehnbar gerade diese ist, erhellt z. B. aus der Erinnerung, daß das
,,ex naturae prescripto“ des Morus fast wörtlich dem „jusqu’aux
bornes que prescrit la nature“ entspricht, mit dem die französische
Revolution 1792 die Rheingrenze forderte. Und so handelte es
sich denn auch für den Engländer in diesem Falle nicht allein um
eine logisch nicht zu umgehende Konsequenz, sondern um einen
Widerhall realer englischer Pläne, mit denen zum ersten Male in
die Utopia das Blut des Lebens einströmt. Morus spielt nämlich
augenscheinlich — den näheren Nachweis behalte ich mir für eine
andere Stelle vor — auf bestimmte Kolonisationsprojekte nicht
etwa in Nordamerika, woran man ja auch denken könnte, sondern
in Irland an. Wir finden in den „State papers“ gerade aus den
Monaten, in denen Morus an der Utopia schrieb, eine der Krone
eingereichte amtliche anonyme Denkschrift über die Kolonisation
Irlands (Okt. 1515), die in wesentlichen Einzelzügen die Situation
der utopischen Siedler wiederspiegelt; sogar die utopische Be-