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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0019
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Die Utopia des Thomas Morus.

19

liberale Imperialismus, den die Haldane, Asquith und Grey ins
Leben riefen, nahm mit Nachdruck den werbenden Gedanken der
englischen Weltverantwortlichkeit, derErziehung derVölker zurFrei-
heit in sein Programm auf. Immer wieder eine Weltmission, die den
nationalen Auserwähltheitsgedanken mit idealistischen Menschheits-
zielen verknüpft, zwar die Macht scheinbar hinter irgendeinem
Ethos zurücktreten läßt, aber niemals davor zurückschrickt, eine
neue ,,Bürde“ der Verantwortlichkeit auf die eigenen Schultern zu
nehmen — um schließlich doch die gewaltigste Welteroberung seit
den Zeiten des Römerreichs zu vollenden.
Dieser Gang der Entwicklung muß denjenigen überraschen,
der sich der Annahme hingeben sollte, daß für diesen doch durch
die Natur isolierten Staat das Machtproblem von Hause aus anders
liegen müßte als für die andern. Die Engländer hätten doch, so
könnte man theoretisch unterstellen, an sich eine bessere Möglich-
keit als die übrigen Völker gehabt, sich auf den nach innen gerich-
teten Wohlfahrtsstaat statt eines angreifenden Machtstaates zu be-
schränken und das ursprüngliche Postulat des Morus zu vollstrecken.
Aber es läßt sich nicht leugnen, daß sie von diesem Vorsprung der
Natur so wenig einen friedlichen Gebrauch machten, wie die Utopier
des Morus, vielmehr ihn umgekehrt dazu benutzten, um unter gün-
stigeren Wettbewerbsbedingungen in einen aussichtsvollen Macht-
kampf einzutreten. So unzertrennbar ist die Macht von dem Wesen
des Staates. Freilich erzeugte die insulare Lage doch wieder eine
besondere Art des innern Verhaltens. Da die Engländer vermöge
dieser Lage den unmittelbaren Versuchungen und Gefahren der
Machtentfaltung stärker als die übrigen Völker entzogen waren, so
ergab sich leicht, daß sie sich vor ihrem eigenen Volke nicht so
einfach, unter dem einleuchtenden Hinweis auf die Not, die an die
Tore der Nation poche, auf die Macht und die ultima ratio regum
zu berufen vermochten: sie hatten einen etwas andern Weg zu gehen.
Die Staatslehre Machiavells war auf dem zerrissenen Boden
Italiens erzeugt, wo die Nation als Ganzes, wehrlos und zersplittert,
den Zugriffen des Auslandes ausgesetzt war, und wo, in dem Kampfe
aller gegen alle, jede politische Existenz, ob legitim oder nicht legi-
tim, nur mit der Tat sich Respekt zu schaffen vermochte — da er-
scheint die Macht allerdings als das einzige Grundgesetz des Lebens,
das hingenommen wird und eines besondern Aufwands an sittlicher
Rechtfertigung nicht mehr bedarf. Die Voraussetzungen der eng-
lischen Politik lagen geradezu umgekehrt. Wer die Nation zu einer
 
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