Studien zur Spätscholastik. II.
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man diese Reden als typisch auffassen für den Lehrbetrieb der
damaligen „modernen“ Schule, so wäre allerdings an ihrer Reform-
bedürftigkeit kein Zweifel. Aber es fehlt diesen „Modernen“ auch
nicht an erfreulicheren Zügen. Jener Kommission gehörte auch
der Magister Hans Hafner oder Schröder (Johannes Lutifiguli) an,
Bakkalar des Kirchenrechts, ein Heidelberger Bürgerssohn, der sich
aus kleinen Verhältnissen im kurfürstlichen Dienste zum ange-
sehenen Juristen emporgearbeitet hat; noch in demselben Jahre ist
er — wahrscheinlich mit Unterstützung des Pfälzer Hofes — nach
Italien gezogen, um von dort als erster Vertreter des wieder ein-
geführten Zivilrechts nach Heidelberg zurückzukehren. SeinLeichen-
redner rühmt ihm später nach, daß er — sehr im Unterschiede zu
den sonstigen Heidelbergern — ungewöhnlichen wissenschaftlichen
Eifer und feine Bildung (humanitatem) besessen habe* 1. Die übrigen
Kommissionsmitglieder sind für uns bloße Namen. Um so lehr-
reicher sind die Beschlüsse dieser Kommission, als Kennzeichen der
ganzen Lage.
Man verhehlt sich nicht, daß der bisherige ungeordnete Zu-
stand des Vorlesungswesens so nicht weitergehen darf, wenn man
den Reformern mit Aussicht auf Erfolg entgegen treten will. Vor
allen Dingen müssen wirklich brauchbare Lehrbücher für den ganzen
Umkreis der für Scholaren und Bakkalare bestimmten Unterrichts-
gegenstände beschafft werden, Kommentare, die den (aristoteli-
schen) Text von Wort zu Wort auflösen und erläutern (in den gang-
baren lateinischen Übersetzungen waren diese Texte ja bis zur
Sinnlosigkeit entstellt und ohne kommentierende Umschreibung
gar nicht zu verstehen!); sodann müssen sich die Lehrer sorgfältig
an die Materie ihres Textes halten (das zielt wohl auf die beliebten
Abschweifungen sophistischer Art ab, die wir aus spätscholasti-
schen Lehrbüchern sattsam kennen), und die Scholaren müssen an-
gehalten werden, wenigstens für die gangbaren Bücher sich selbst,
mindestens zu zweit oder dritt, einen eigenen Text zu beschaffen,
super excelsum solium thronum sedere consentiat, cum tarnen idem, ul propheta
ait, semper rectus est et nusquam ad modum sedentis se incurvet? (!). — Es handelt
sich um Prunkreden, Schluß- bzw. Einleitungsvorlesungen zu jedem ein-
zelnen Buche der Sentenzen: herkömmlich wurde darin immer wieder (also
sechsmal!) dasselbe Thema fortgesponnen. Das entschuldigt viel Geschwätz.
Aber wieviel inhaltreicher wußte noch Marsilius diese Reden zu gestalten!
1 Lebensdaten bei Thorbecke 87f.; Leichenrede: Clm. 7080, 226 — 29.
Ebendort heißt es: Cum alii civium Heidelb er gensium liberi fere omnes ignavia
torpeant atque humiles permaneant . . .
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man diese Reden als typisch auffassen für den Lehrbetrieb der
damaligen „modernen“ Schule, so wäre allerdings an ihrer Reform-
bedürftigkeit kein Zweifel. Aber es fehlt diesen „Modernen“ auch
nicht an erfreulicheren Zügen. Jener Kommission gehörte auch
der Magister Hans Hafner oder Schröder (Johannes Lutifiguli) an,
Bakkalar des Kirchenrechts, ein Heidelberger Bürgerssohn, der sich
aus kleinen Verhältnissen im kurfürstlichen Dienste zum ange-
sehenen Juristen emporgearbeitet hat; noch in demselben Jahre ist
er — wahrscheinlich mit Unterstützung des Pfälzer Hofes — nach
Italien gezogen, um von dort als erster Vertreter des wieder ein-
geführten Zivilrechts nach Heidelberg zurückzukehren. SeinLeichen-
redner rühmt ihm später nach, daß er — sehr im Unterschiede zu
den sonstigen Heidelbergern — ungewöhnlichen wissenschaftlichen
Eifer und feine Bildung (humanitatem) besessen habe* 1. Die übrigen
Kommissionsmitglieder sind für uns bloße Namen. Um so lehr-
reicher sind die Beschlüsse dieser Kommission, als Kennzeichen der
ganzen Lage.
Man verhehlt sich nicht, daß der bisherige ungeordnete Zu-
stand des Vorlesungswesens so nicht weitergehen darf, wenn man
den Reformern mit Aussicht auf Erfolg entgegen treten will. Vor
allen Dingen müssen wirklich brauchbare Lehrbücher für den ganzen
Umkreis der für Scholaren und Bakkalare bestimmten Unterrichts-
gegenstände beschafft werden, Kommentare, die den (aristoteli-
schen) Text von Wort zu Wort auflösen und erläutern (in den gang-
baren lateinischen Übersetzungen waren diese Texte ja bis zur
Sinnlosigkeit entstellt und ohne kommentierende Umschreibung
gar nicht zu verstehen!); sodann müssen sich die Lehrer sorgfältig
an die Materie ihres Textes halten (das zielt wohl auf die beliebten
Abschweifungen sophistischer Art ab, die wir aus spätscholasti-
schen Lehrbüchern sattsam kennen), und die Scholaren müssen an-
gehalten werden, wenigstens für die gangbaren Bücher sich selbst,
mindestens zu zweit oder dritt, einen eigenen Text zu beschaffen,
super excelsum solium thronum sedere consentiat, cum tarnen idem, ul propheta
ait, semper rectus est et nusquam ad modum sedentis se incurvet? (!). — Es handelt
sich um Prunkreden, Schluß- bzw. Einleitungsvorlesungen zu jedem ein-
zelnen Buche der Sentenzen: herkömmlich wurde darin immer wieder (also
sechsmal!) dasselbe Thema fortgesponnen. Das entschuldigt viel Geschwätz.
Aber wieviel inhaltreicher wußte noch Marsilius diese Reden zu gestalten!
1 Lebensdaten bei Thorbecke 87f.; Leichenrede: Clm. 7080, 226 — 29.
Ebendort heißt es: Cum alii civium Heidelb er gensium liberi fere omnes ignavia
torpeant atque humiles permaneant . . .