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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 7. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 2: Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des XV. Jahrhunderts — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38041#0096
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Gerhard Ritter:

Wo liegen die Ursachen dieses Verfalls? War es ein Zufall, daß die
großen schöpferischen Geister ausblieben, jene Meisterwerke der
Hochscholastik fortzuführen? Wurden die äußeren Voraussetzun-
gen ungünstig mit dem Zerfall der autoritativen, kirchlichen Ein-
heitskultur des Abendlandes ? Oder war aus inneren Gründen der
Punkt erreicht, wo die Probleme sich erschöpften, die der mensch-
liche Scharfsinn aus christlicher Dogmatik und hellenischer Philo-
sophie mit bloß formallogischen Hilfsmitteinzu ersinnen vermochte ?
War es ein Vorgang, ähnlich dem Absterben der rationalistischen
Kultur des 18. Jahrhunderts: daß der europäische Geist sich ab-
zuwenden begann von den Denkoperationen der bloß logischen Ver-
nunft, daß die alten Fragen schal und ausgeleiert erschienen, die
einst das Denken der begabtesten Köpfe tief erregt hatten? Wer
will es sagen? Wer will das Geheimnis der Geschichte auskennen?
Jedenfalls: der Verfall ist unleugbar. Was das Zeitalter an großen
und fruchtbaren Gedanken hervorgebracht hat — die mystische
Bewegung, die Philosophie des großen Kusaners, die Wiederentdek-
kung des Altertums, das geistige Leben der italienischen Renais-
sance überhaupt —, das sprießt nicht mehr wie früher aus dem Lehr-
betrieb der Universitäten hervor. Die arbeiteten brav und zunft-
gerecht, aber gänzlich schwunglos weiter im alten Stile, wie ihn
das Handwerk von Generation zu Generation forterbte. Die Zeit
der großen gotischen Kathedralen war auch in der Scholastik vor-
über — so baute man doch fort nach den herkömmlichen gotischen
Grundrissen und mit spätgotisch-wunderlichen Gedanken-Schnör-
keln; nur freilich sah das alles gar nicht mehr heroisch aus, sondern
recht durchschnittlich, schulmäßig und langweilig. Viel Kleinlich-
Menschliches wirkte dabei mit. Sieht man in den kleinen Alltags-
betrieb der Universitäten hinein, so braucht man nicht lange nach
Gründen zu suchen für das Überwuchern der formallogischen über
die eigentlich philosophische Literatur. Zu den Vorlesungen über
das aristotelische Organon (ars vetus und ars nova) drängte sich die
Masse der Scholaren, die das Studium begannen. Dem entsprach
die Beliebtheit dieser Lektüren unter den Magistern. Besser be-
zahlt war freilich die Physik* 1, die gleichfalls zum Unterkurs gehörte
1501), der die Notwendigkeit seines — übrigens ausgezeichneten — Kom-
pendiums mit der Überfülle verwickelter Kontroversen begründet, an denen
das akademische Studium der meisten Studenten zu scheitern pflege.
1 Das Stipendium, betrug in Heidelberg: für vetus ars und für die erste
Analytik je 3, für die Topik 2%, für 2. Analytik 2 sol. den., für Physik, Ethik,
Metaphysik je 8 sol. den.
 
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