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Reitzenstein, Richard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1923, 2. Abhandlung): Die griechische Tefnutlegende — Heidelberg, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.38043#0026
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26

R. Reitzenstein:

In der Behandlung der Fabel von den beiden Schakalen wird der
Löwe durch die sich überstürzenden kurzen Sätze sehr glücklich
charakterisiert; eine bewußte Steigerung über den von Aly treff-
lich charakterisierten Herodoteischen Stil scheint mir fühlbar.
Doch ehe ich auf Einzelheiten eingehe, darf ich vielleicht andeuten,
welche Bedeutung für mich schon der Nachweis der Existenz eines
solchen „Kunstmärchens“ in der hellenistischen Literatur hat.
Daß der Mythos, wenn das Volk seine Religion geändert oder ver-
loren hat, zum Märchen wird, ist bekannt und unbestritten. Aber
ähnliches geschieht auch bei seinem Übergang von einem Volk
zum andern, nur daß, da hier die Literatur die Trägerin ist, die
Voraussetzung in der Regel sein wird, daß die Göttersage schon
in dem eigenen Volk der Unterhaltungsliteratur sich wenigstens
genähert hat und das dichterische Interesse das religiöse zu über-
wiegen beginnt. So sehen wir einen iranischen Mythos von dem
Gott, der fünf Waffen oder Glieder hat, mit ihnen in die Materie
herabsteigt, von ihr verschlungen und wieder befreit wird, in
Nordindien zu dem unterhaltenden Märchen von dem uner-
schrockenen Prinzen Fünfwaffe und dem menschenfressenden Un-
hold werden. Solche Unholde erscheinen hier in ganz weltlichen
Wundererzählungen, und was an dem Prinzen hervorgehoben
werden soll, ist zunächt nur die völlige Furchtlosigkeit; es wäre
für das Märchen gleichgültig, wenn er die Drohung, durch eine
Diamantwaffe in sich den Magen des Unholdes zu zerschneiden,
nur erfunden hätte. Aber der buddhistische Erzähler legt wieder
religiösen oder eigentlich nur moralischen Sinn hinein: das Märchen
wird ihm zur Allegorie der Selbsterlösung und gewinnt so bis zu
einem gewissen Grade die ursprüngliche Bedeutung des Mythos
zurück.* 1 Es steht ähnlich mit dem berühmten Hymnos auf die
Seele in den Thomas-Akten. Der gleiche iranische Mythos ist in
anderer Ausgestaltung im Norden Persiens zur farbenprächtigen
Kunstdichtung von dem in die Fremde gesandten Königssohn
geworden. Ein syrisch-christlicher Autor deutet sie auf seinen
Erlöser, und die religiöse Unterhaltungsliteratur nimmt sie als an
diesen gerichtetes Zaubergebet auf.2 Etwas anders, doch noch
immer ähnlich, ist die Umbildung der aus religiösen Texten über-
nommenen Einkleidungen alchemistischer Geheimschriften, die
1 Vgl. Marie Lüders, Buddhistische Märchen 1 und meine Behandlung,
Zeitschr. f. d. neutestam. Wissenschaft XXI, 1922, S. 35.
1 Vgl. „Das iranische Erlösungsmysterium“,
 
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