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R. Reitzenstein:
fundenen Aufzählung von Einzelbeobachtungen die nach Katego-
rien geordnete Übersicht über alle Lebewesen (vgl. etwa bei Achilles
Tatios die Schilderung, wie die Liebe in der ganzen Natur waltet).
Einen richtigen Eindruck von dem Umfang der Umgestaltung
wird freilich nur der Leser empfangen, der sich selbst aus der
Übersetzung des ganzen demotischen Textes einen Eindruck von
der Fülle seltsamer Formeln und Schilderungen gewinnt, welche
der Übersetzer überspringen mußte, weil sie seine Leser zu fremd-
artig berührt hätten.
Ich habe bisher vorausgesetzt, daß der Übersetzer im wesent-
lichen denselben Text vor sich hatte, den uns der späte Leidener
Papyrus bietet. Unbedingt notwendig ist das nicht. Schon das
Märchen ist, wie Alt richtig hervorhebt, seiner Natur nach immer
neuen formellen Umgestaltungen ausgesetzt; noch mehr, seltsamer-
weise, die eigentlich religiöse Literatur.1 Nach der einen Seite
bedingt ihr Zweck, daß auf den urkundlichen Wortlaut besonderer
Wert gelegt wird; nur der echte Wortlaut sichert einer Formel
die Wirkung; nach der anderen Seite bedingt ihre Verbreitungs-
art eine besondere Flüssigkeit der Überlieferung; jeder Priester
oder Schreiber, der sich inspiriert fühlt, kann Neues einführen.
So geben bekanntlich unsere Zauberpapyri im Text mehrfach
kürzere oder längere Varianten mit der Einführung έν οίλλψ oder
ev ά'λλοις άντιγράφοις, und sehr charakteristisch ist es, daß die
demotische Fassung der Tefnutlegende dieselbe Eigenheit zeigt.
Eine solche Variante habe ich oben S. 20 angeführt, Dem. XV, 9:
,,Phre, der Sonne, dem Vergelter der Götter — andere Lesart:
dem Gotte —; er übt Vergeltung an allem, was auf Erden ist“.
Diese abweichende Lesung hatte der griechische Übersetzer vor
sich und verstand vielleicht nicht wie Prof. Spieoelbero in seinem
Glossar Nr. 912 (S. 296) „dem Vergeltergotte“, sondern „dem
Sonnengotte“. Ja noch mehr, wenn auch die klägliche Verstümme-
lung des griechischen Textes ein Urteil erschwert, scheint mir
doch fast sicher, daß er den Greifen als Vergeltergott nicht kennt,
sondern nur einen unter dem Sonnengott stehenden Todesdämon,
dessen leider ganz lückenhafte, sehr interessante Beschreibung wir
1 Wohl das stärkste Beispiel für die Flüssigkeit sakraler Texte habe ich in
der Abhandlung über die Göttin Psyche (Heidelberg. Sitzungsber. 1917, Abh. 10),
S. 28 geboten. Eine ähnliche Freiheit bei der Übersetzung zeigt Pap. Oxyrh. 1381.
Weitere Beispiele rviirde eine kritische Ausgabe des Corpus Hermeticuni bieten;
nicht selten folgt hier einem Satz unmittelbar seine Widerlegung oder Umkehrung
R. Reitzenstein:
fundenen Aufzählung von Einzelbeobachtungen die nach Katego-
rien geordnete Übersicht über alle Lebewesen (vgl. etwa bei Achilles
Tatios die Schilderung, wie die Liebe in der ganzen Natur waltet).
Einen richtigen Eindruck von dem Umfang der Umgestaltung
wird freilich nur der Leser empfangen, der sich selbst aus der
Übersetzung des ganzen demotischen Textes einen Eindruck von
der Fülle seltsamer Formeln und Schilderungen gewinnt, welche
der Übersetzer überspringen mußte, weil sie seine Leser zu fremd-
artig berührt hätten.
Ich habe bisher vorausgesetzt, daß der Übersetzer im wesent-
lichen denselben Text vor sich hatte, den uns der späte Leidener
Papyrus bietet. Unbedingt notwendig ist das nicht. Schon das
Märchen ist, wie Alt richtig hervorhebt, seiner Natur nach immer
neuen formellen Umgestaltungen ausgesetzt; noch mehr, seltsamer-
weise, die eigentlich religiöse Literatur.1 Nach der einen Seite
bedingt ihr Zweck, daß auf den urkundlichen Wortlaut besonderer
Wert gelegt wird; nur der echte Wortlaut sichert einer Formel
die Wirkung; nach der anderen Seite bedingt ihre Verbreitungs-
art eine besondere Flüssigkeit der Überlieferung; jeder Priester
oder Schreiber, der sich inspiriert fühlt, kann Neues einführen.
So geben bekanntlich unsere Zauberpapyri im Text mehrfach
kürzere oder längere Varianten mit der Einführung έν οίλλψ oder
ev ά'λλοις άντιγράφοις, und sehr charakteristisch ist es, daß die
demotische Fassung der Tefnutlegende dieselbe Eigenheit zeigt.
Eine solche Variante habe ich oben S. 20 angeführt, Dem. XV, 9:
,,Phre, der Sonne, dem Vergelter der Götter — andere Lesart:
dem Gotte —; er übt Vergeltung an allem, was auf Erden ist“.
Diese abweichende Lesung hatte der griechische Übersetzer vor
sich und verstand vielleicht nicht wie Prof. Spieoelbero in seinem
Glossar Nr. 912 (S. 296) „dem Vergeltergotte“, sondern „dem
Sonnengotte“. Ja noch mehr, wenn auch die klägliche Verstümme-
lung des griechischen Textes ein Urteil erschwert, scheint mir
doch fast sicher, daß er den Greifen als Vergeltergott nicht kennt,
sondern nur einen unter dem Sonnengott stehenden Todesdämon,
dessen leider ganz lückenhafte, sehr interessante Beschreibung wir
1 Wohl das stärkste Beispiel für die Flüssigkeit sakraler Texte habe ich in
der Abhandlung über die Göttin Psyche (Heidelberg. Sitzungsber. 1917, Abh. 10),
S. 28 geboten. Eine ähnliche Freiheit bei der Übersetzung zeigt Pap. Oxyrh. 1381.
Weitere Beispiele rviirde eine kritische Ausgabe des Corpus Hermeticuni bieten;
nicht selten folgt hier einem Satz unmittelbar seine Widerlegung oder Umkehrung