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Immisch, Otto; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1924/25, 2. Abhandlung): Bemerkungen zur Schrift vom Erhabnen — Heidelberg, 1925

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https://doi.org/10.11588/diglit.38944#0015
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Bemerkungen zur Schrift vom Erhabnen.

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stehen (in eundem locurn colligere die Übersetzung von Morus bei
Weiske, to gather into one Prickard), sondern, wie Toup gesehen
hat, temporal (at one instant Rhys Roberts, wie sie auf einmal herbei-
holt H. F. Müller). Was έπιζητεΐν angeht, so kann die Bedeutung
desiderare (ποΤεΐν) hier nicht vorliegen trotz der scheinbar darauf
hinführenden Worte unmittelbar davor, die wir vorhin weggelassen
haben und die die dreiteilige Aufzählung zusammenfassend ab-
schließen: πάνΕ’ώς άλλότρια διοιχόμενα (επιζητεί). Daß Sappho all
diese Dinge vermisse, kommt gar nicht in Frage. Man hält sich
deshalb an die zweite noch nachweisbare Bedeutung von έπιζητεΐν,
nämlich indagare, entweder eigentlich (vom Jäger) oder übertragen,
ausforschen, in die Untersuchung ziehen, vornehmen oder mit beson-
derer Wendung heranholen, herbeiholen, wie Müller übersetzt1 und
wie man mit persönlichem Objekt έπιζητεΐν τινα nachweislich sagen
kann (einen holen lassen, herbeiholen). Inwiefern kann nun aber
gesagt werden: wenn Sappho gleichzeitig Seele und Leib, Ohr und
Zunge, Auge und Haut .,heranholt“—offenbar doch als die Träger
der έμφερόμενα, der Symptome ihrer Leidenschaft —, sie hole das
alles heran ώς άλλότρια διοιχόμενα ? Wollen ihr denn diese ihre
körperlichen Dinge ,,davonlaufen“ oder ,,entgleitend sich zer-
streuen“? Und wieso sind sie ihr ,,fremd“ ? Die Ausleger ver-
stehen aber in der Tat so: tamquam aliena, dilabentia Morus, as
all dispersed and strangers before Prickard, alles ols ob es ihr ent-
fremdet und zerstoben wäre, H. F. Müller. Vom Widerstreben der
Einzelheiten gegen die έπισύνθεσις und πύκνωσις kann hier in keinem
Fall die Rede sein: υπό τό αύτό war ja nicht lokal, das Vereinen
kommt wie wir sahen erst später nach, υπό το αύτό πάντα έπιζητεΐν
heißt eodem omnia tempore adsciscere. Ferner könnte wohl διοιχό-
μενα das Entgleiten der dem „Zugriff“ der gestaltenden Dichterin
(ihrerλήψις) widerstrebenden Einzelheiten (derλήμματα) ausdrücken,
inwiefern aber auch άλλότρια? Und ist es denn überhaupt richtig,
daß die λήμματα sich nicht „greifen“ lassen wollen, daß sie ent-
schwinden, oder wie Müller sagt, zerstieben? Warum verhielten
sich der Dichterin eigner Leib, die eigne Seele, Ohr, Zunge usw.
ihrem έπιζητεΐν gegenüber so sonderbar widerspenstig? Man
sieht, ganz etwas andres muß hier drinstecken. Fehlten die dunklen
Worte, man würde sie nicht vermissen. Der Verfasser hätte dann
1 Sicher vorzuziehen dem summon (einladen, vorladen) von Rhys Ro-
berts, das aber immer noch besser ist als Prickards to gather (nach dem colli-
gere des Morus).
 
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