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Otto Im misch:
nur beabsichtigt zu zeigen, wie von Sappho der Eindruck der Man-
nigfaltigkeit (der σύνοδος των παθών) erzielt wird, einerseits durch
das ύπο τό αύτο πάντα, andrerseits durch das καθ’ ύπεναντιώσεις άμα.
Der Zusatz fügt dahinein eine neue άρετή der Sappho, natürlich
keine ganz abseitsliegende, aber doch eine, die sich innerhalb dieser
kunstvollen Mannigfaltigkeit selbständig geltend macht. Es ist
kurz gesagt der Vorzug der Objektivität, daß die Gestalterin
über ihrem Stoffe steht. Obgleich es ihre eignen Affekte sind, die
sie zur Darstellung heranholt, behandelt sie sie nicht anders, mit
der gleichen Freiheit und künstlerischen Distanz, als wären es
fremde. Damit wäre ώς άλλότρια erklärt. Zugleich ist so der Sinn
von ,,zerstiebend“ oder „entgleitend“ für das zugehörige διοιχό-
μενα definitiv ausgeschlossen. Offenbar ist auch dieses, ebenso wie
vorhin ύπο το αύτο, nicht lokal, sondern temporal zu verstehen. Zu
ihrer Objektivität gehört es, daß die Künstlerin das eigne gegen-
wärtige Erleben nicht nur wie ein fremdes, sondern auch wie
ein schon abgeschlossenes und vergangenes zum Gestaltungs-
prozeß „heranholt“, αί ήμέραι διοίχηνται wird aus Herodot IV 136
angeführt, und daß die perfektische Bedeutung des Präsens, wie
im Simplex, auch im Kompositum angenommen werden darf, be-
zeugt die andre und häufige Bedeutung des Wortes διοίχομαι -
perii. Freilich erwartet man ώς άλλότρια καί, διοιχόμενα, aber das
Asyndeton, auch das zweigliedrige, ist doch nicht unerhört (sogar
im schlichten Xenophon: άλλα δέρατα έχοντες παχέα μακρά Anab.
V 4, 25). Es gehört obendrein zu den spezifischen Figuren des ύψος
(c. 19) und hat an unsrer Stelle ersichtlich auch noch einen psycho-
logischen Grund: auf das dazwischengestellte zweiteilige Glied wirkt
die Formung der beiden es umgebenden dreigliedrigen Asyndeta ein,
die ja beide gerade aus drei Doppelungen bestehen.
Bei schärferem Zusehen zeigt sich zu guter Letzt, daß dies
scheinbar beiläufig erteilte Lob der Objektivität doch nicht nur so
ganz nebenher und parenthetisch eingefügt ist. Schon in § 1 hieß
es mit dem (nicht selten verkannten) explikativen καί, welches so-
viel ist wie unser das heißt: ή Σαπφώ τά συμβαίνοντα ταΐς έρωτικαΐς
μανίαις παθήματα έκ των παρεπομένων και εκ τής αλήθειας αυτής
έκάστοτε λαμβάνει. Soll aber die Beobachtung der Einzelzüge Wahr-
heitswert haben, mit der Wirklichkeit identisch sein, dann ist
allerdings Objektivität eine selbstverständliche Forderung. Auch
die Selbstbeobachtung muß imstande sein, das eigne gegenwärtige
Erleben wie ein fremdes und zeitlich abgeschlossenes anzuschauen,
ώς άλλότρια διοιχόμενα.
Otto Im misch:
nur beabsichtigt zu zeigen, wie von Sappho der Eindruck der Man-
nigfaltigkeit (der σύνοδος των παθών) erzielt wird, einerseits durch
das ύπο τό αύτο πάντα, andrerseits durch das καθ’ ύπεναντιώσεις άμα.
Der Zusatz fügt dahinein eine neue άρετή der Sappho, natürlich
keine ganz abseitsliegende, aber doch eine, die sich innerhalb dieser
kunstvollen Mannigfaltigkeit selbständig geltend macht. Es ist
kurz gesagt der Vorzug der Objektivität, daß die Gestalterin
über ihrem Stoffe steht. Obgleich es ihre eignen Affekte sind, die
sie zur Darstellung heranholt, behandelt sie sie nicht anders, mit
der gleichen Freiheit und künstlerischen Distanz, als wären es
fremde. Damit wäre ώς άλλότρια erklärt. Zugleich ist so der Sinn
von ,,zerstiebend“ oder „entgleitend“ für das zugehörige διοιχό-
μενα definitiv ausgeschlossen. Offenbar ist auch dieses, ebenso wie
vorhin ύπο το αύτο, nicht lokal, sondern temporal zu verstehen. Zu
ihrer Objektivität gehört es, daß die Künstlerin das eigne gegen-
wärtige Erleben nicht nur wie ein fremdes, sondern auch wie
ein schon abgeschlossenes und vergangenes zum Gestaltungs-
prozeß „heranholt“, αί ήμέραι διοίχηνται wird aus Herodot IV 136
angeführt, und daß die perfektische Bedeutung des Präsens, wie
im Simplex, auch im Kompositum angenommen werden darf, be-
zeugt die andre und häufige Bedeutung des Wortes διοίχομαι -
perii. Freilich erwartet man ώς άλλότρια καί, διοιχόμενα, aber das
Asyndeton, auch das zweigliedrige, ist doch nicht unerhört (sogar
im schlichten Xenophon: άλλα δέρατα έχοντες παχέα μακρά Anab.
V 4, 25). Es gehört obendrein zu den spezifischen Figuren des ύψος
(c. 19) und hat an unsrer Stelle ersichtlich auch noch einen psycho-
logischen Grund: auf das dazwischengestellte zweiteilige Glied wirkt
die Formung der beiden es umgebenden dreigliedrigen Asyndeta ein,
die ja beide gerade aus drei Doppelungen bestehen.
Bei schärferem Zusehen zeigt sich zu guter Letzt, daß dies
scheinbar beiläufig erteilte Lob der Objektivität doch nicht nur so
ganz nebenher und parenthetisch eingefügt ist. Schon in § 1 hieß
es mit dem (nicht selten verkannten) explikativen καί, welches so-
viel ist wie unser das heißt: ή Σαπφώ τά συμβαίνοντα ταΐς έρωτικαΐς
μανίαις παθήματα έκ των παρεπομένων και εκ τής αλήθειας αυτής
έκάστοτε λαμβάνει. Soll aber die Beobachtung der Einzelzüge Wahr-
heitswert haben, mit der Wirklichkeit identisch sein, dann ist
allerdings Objektivität eine selbstverständliche Forderung. Auch
die Selbstbeobachtung muß imstande sein, das eigne gegenwärtige
Erleben wie ein fremdes und zeitlich abgeschlossenes anzuschauen,
ώς άλλότρια διοιχόμενα.