Einleitung.
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mußten überhaupt neue Bilder gesucht werden. Den neuen Sinn
erhielten sie in den Handschriften der allegorischen Romane des
späteren Mittelalters. In den Handschriften des Roman de la Rose
(Cod. 2592)1 begegnet uns Venus wieder, den Spiegel in der Hand
(Taf. IV, Abb. 8). Aber nun ist sie nicht mehr als antike Göttin darge-
stellt, sondern als Oiseuse. In diesen Romanen feiert die Heiden-
göttin und ihr tückischer Sohn eine Wiederauferstehung. Auf einem
Schwanenwagen zieht sie durch die Lüfte (Cod. 122), und unten
stehen die armen Menschen und blicken zu ihrer Schicksalsgöttin
empor (Taf. IV, Abb. 7). Doch diese neue Beseelung erfährt nur
Dame Venus. Nur sie wird eine lebendige allegorische Figur, wäh-
rend die anderen Heidengötter und selbst die Sterngötter im mittel-
alterlichen Roman fast ganz zurücktreten.
II. Die Scotus-Gruppe.
Die große Zahl der illuminierten Traktate, die antikes mytho-
logisches Gut weiterführen, ist nicht mythographischen Inhalts,
sondern astronomischen. Jenes neue Interesse am Bild, das zu uns
aus den Zeichnungen im Cod. 12600 gesprochen hat, mußte dazu
führen, neues und reicheres Material zu suchen als in den im frühen
Mittelalter bloß kopierten Aratea-Handschriften vorlag. Die Rezep-
tion des Neuen erfolgt im Zusammenhang mit der Rezeption des
orientalischen Gutes. Damit kommen wir zu der zweiten Gruppe
unserer Handschriften. Die Nationalbibliothek besitzt zwar keine
der spanischen Handschriften, die uns diesen Vorgang so deutlich
werden lassen wie etwa der Reg. 12832, wohl aber enthält sie nicht
weniger als vier Handschriften der Astronomie des Michael Scotus.
Michael Scotus, der am Hofe Friedrichs II.3 seine große Kosmo-
logie verfertigt hat, ist für das spätere nordische Mittelalter
die entscheidende Gestalt geworden. Bei ihm zuerst finden
wir — wenigstens in den Handschriften der Nationalbiblio-
thek — ganz unantike Sternbilder wie den Bohrer, die Fahne,
1 Auf eine Beschreibung dieser wesentlich mehr allegorischen als mytho-
logischen Hs. ist im Hinblick auf die ausgezeichnete Arbeit von Alfred Kuhn,
Die Illustration des Rosenromans (Jahrb. d. kunsthist. Samml. d. a. Kaiserin
XXXI, 1912, S. 1 ff.) verzichtet worden.
2 Über diesen vgl. A. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung (Sitzungs-
ber. d. Heidelb. Akad. d. Wiss. Philos.-hist. Kl. 1919, S. 41); ferner Gundel
in der 3. Aufl. von Boll, Sternglaube und Sterndeutung (1926) passim.
3 Über die Abfassungszeit des Werkes s. Ch. H. Haskins, Studies in the
history of mediaeval Science (Cambridge 1924), S. 276; es handelt sich Zeile 25
nicht um Hss. des Liber particularis, sondern des Liber introductorius.
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mußten überhaupt neue Bilder gesucht werden. Den neuen Sinn
erhielten sie in den Handschriften der allegorischen Romane des
späteren Mittelalters. In den Handschriften des Roman de la Rose
(Cod. 2592)1 begegnet uns Venus wieder, den Spiegel in der Hand
(Taf. IV, Abb. 8). Aber nun ist sie nicht mehr als antike Göttin darge-
stellt, sondern als Oiseuse. In diesen Romanen feiert die Heiden-
göttin und ihr tückischer Sohn eine Wiederauferstehung. Auf einem
Schwanenwagen zieht sie durch die Lüfte (Cod. 122), und unten
stehen die armen Menschen und blicken zu ihrer Schicksalsgöttin
empor (Taf. IV, Abb. 7). Doch diese neue Beseelung erfährt nur
Dame Venus. Nur sie wird eine lebendige allegorische Figur, wäh-
rend die anderen Heidengötter und selbst die Sterngötter im mittel-
alterlichen Roman fast ganz zurücktreten.
II. Die Scotus-Gruppe.
Die große Zahl der illuminierten Traktate, die antikes mytho-
logisches Gut weiterführen, ist nicht mythographischen Inhalts,
sondern astronomischen. Jenes neue Interesse am Bild, das zu uns
aus den Zeichnungen im Cod. 12600 gesprochen hat, mußte dazu
führen, neues und reicheres Material zu suchen als in den im frühen
Mittelalter bloß kopierten Aratea-Handschriften vorlag. Die Rezep-
tion des Neuen erfolgt im Zusammenhang mit der Rezeption des
orientalischen Gutes. Damit kommen wir zu der zweiten Gruppe
unserer Handschriften. Die Nationalbibliothek besitzt zwar keine
der spanischen Handschriften, die uns diesen Vorgang so deutlich
werden lassen wie etwa der Reg. 12832, wohl aber enthält sie nicht
weniger als vier Handschriften der Astronomie des Michael Scotus.
Michael Scotus, der am Hofe Friedrichs II.3 seine große Kosmo-
logie verfertigt hat, ist für das spätere nordische Mittelalter
die entscheidende Gestalt geworden. Bei ihm zuerst finden
wir — wenigstens in den Handschriften der Nationalbiblio-
thek — ganz unantike Sternbilder wie den Bohrer, die Fahne,
1 Auf eine Beschreibung dieser wesentlich mehr allegorischen als mytho-
logischen Hs. ist im Hinblick auf die ausgezeichnete Arbeit von Alfred Kuhn,
Die Illustration des Rosenromans (Jahrb. d. kunsthist. Samml. d. a. Kaiserin
XXXI, 1912, S. 1 ff.) verzichtet worden.
2 Über diesen vgl. A. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung (Sitzungs-
ber. d. Heidelb. Akad. d. Wiss. Philos.-hist. Kl. 1919, S. 41); ferner Gundel
in der 3. Aufl. von Boll, Sternglaube und Sterndeutung (1926) passim.
3 Über die Abfassungszeit des Werkes s. Ch. H. Haskins, Studies in the
history of mediaeval Science (Cambridge 1924), S. 276; es handelt sich Zeile 25
nicht um Hss. des Liber particularis, sondern des Liber introductorius.