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Saxl, Astrolog. Hss. II. Bd. Wien.
dem Vorbild fehlt. Dieser Zeichnungsstil will das Geometrische
vermeiden — die Linien der Aufschriften werden z. B. nicht mehr
bis zu den einzelnen Gesichtsteilen geführt, die Arm- und Bein-
haltung ist nicht mehr symmetrisch —, der Illustrator schildert
einen Menschen, der sich freier im All zu bewegen weiß. Allerdings
wirkt gerade durch diese größere Beweglichkeit das Starre der
mathematischen Grenze, die die Gestalt umschließt, um so stärker.
An einer Zeichnung wie der Münchener empfinden wir dagegen das
menschlich Freie so schwach, daß wir auch die kosmische Gebunden-
heit kaum empfinden, die das Bild ausdriicken soll. Der Mensch ist
ganz im Zwang des göttlichen Gesetzes.
Wir sind in der glücklichen Lage, in den Wiener Handschriften
auch eine Mikrokosmos-Zeichnung aus der Zeit des Werdens der
italienischen Renaissance zu besitzen, das Bildchen im Cod. 2359
(Taf. XI, Abb. 18). Die Beziehung des Menschen zu den Sternen ist
hier so dargestellt, daß ein kleiner Mensch auf blumiger Erde stehend
im Zentrum der neun Sphären erscheint, welche die Kreise der sieben
Planeten, der Fixsterne und der Tierkreiszeichen bedeuten. Das
nackte Menschlein hat den Kopf schelmisch geneigt, halt die eine
Hand etwas verschämt vor den Schoß und in der anderen eine Blume.
Neben dem Menschen stehen große Pflanzen, ein Rautenmuster
überzieht den farbigen Grund, vor dem die Gestalt erscheint. In
die Mitte der Sphärenkreise setzt also der italienische Künstler
das genrehafte Bild eines Kindes, das nichts von den Sternen-
gewalten zu ahnen scheint, die es bedrohen und schützen, und die
sein Wesen bilden. Ganz im Sinne der Frührenaissance ist hier
schon versucht, das Problem Freiheit und Notwendigkeit in künst-
lerisch bewegter Form zu stellen, die Spannung zwischen der
Autarkie des Individuums und dessen kosmischer Gebundenheit
zu betonen, ohne daß versucht würde, eine Lösung für diese Span-
nung zu finden1.
Wesentlich anders stellt sich uns das Mikrokosmos-Männchen
in einer spätmittelalterlichen nordischen Handschrift dar (Cod. 5327:
Taf. XI, Abb.19). Im Zentrum eines Kreises steht der Mensch. Die
Füße werden von der Kreislinie geschnitten, die Arme sind zur Seite
1 Der Verf. wagt es nicht, auf das Problem „Freiheit und Notwendig-
keit“ weiter einzugehen. Den Hinweis darauf verdankt er E. Cassirer,
dessen eingehende Darstellung des Verhältnisses der Begriffe Freiheit und
Notwendigkeit im Zeitalter der Frührenaissance er demnächst in den
Studien d. Bibi. Warburg Bd. 10 herauszugeben die Ehre hat.
Saxl, Astrolog. Hss. II. Bd. Wien.
dem Vorbild fehlt. Dieser Zeichnungsstil will das Geometrische
vermeiden — die Linien der Aufschriften werden z. B. nicht mehr
bis zu den einzelnen Gesichtsteilen geführt, die Arm- und Bein-
haltung ist nicht mehr symmetrisch —, der Illustrator schildert
einen Menschen, der sich freier im All zu bewegen weiß. Allerdings
wirkt gerade durch diese größere Beweglichkeit das Starre der
mathematischen Grenze, die die Gestalt umschließt, um so stärker.
An einer Zeichnung wie der Münchener empfinden wir dagegen das
menschlich Freie so schwach, daß wir auch die kosmische Gebunden-
heit kaum empfinden, die das Bild ausdriicken soll. Der Mensch ist
ganz im Zwang des göttlichen Gesetzes.
Wir sind in der glücklichen Lage, in den Wiener Handschriften
auch eine Mikrokosmos-Zeichnung aus der Zeit des Werdens der
italienischen Renaissance zu besitzen, das Bildchen im Cod. 2359
(Taf. XI, Abb. 18). Die Beziehung des Menschen zu den Sternen ist
hier so dargestellt, daß ein kleiner Mensch auf blumiger Erde stehend
im Zentrum der neun Sphären erscheint, welche die Kreise der sieben
Planeten, der Fixsterne und der Tierkreiszeichen bedeuten. Das
nackte Menschlein hat den Kopf schelmisch geneigt, halt die eine
Hand etwas verschämt vor den Schoß und in der anderen eine Blume.
Neben dem Menschen stehen große Pflanzen, ein Rautenmuster
überzieht den farbigen Grund, vor dem die Gestalt erscheint. In
die Mitte der Sphärenkreise setzt also der italienische Künstler
das genrehafte Bild eines Kindes, das nichts von den Sternen-
gewalten zu ahnen scheint, die es bedrohen und schützen, und die
sein Wesen bilden. Ganz im Sinne der Frührenaissance ist hier
schon versucht, das Problem Freiheit und Notwendigkeit in künst-
lerisch bewegter Form zu stellen, die Spannung zwischen der
Autarkie des Individuums und dessen kosmischer Gebundenheit
zu betonen, ohne daß versucht würde, eine Lösung für diese Span-
nung zu finden1.
Wesentlich anders stellt sich uns das Mikrokosmos-Männchen
in einer spätmittelalterlichen nordischen Handschrift dar (Cod. 5327:
Taf. XI, Abb.19). Im Zentrum eines Kreises steht der Mensch. Die
Füße werden von der Kreislinie geschnitten, die Arme sind zur Seite
1 Der Verf. wagt es nicht, auf das Problem „Freiheit und Notwendig-
keit“ weiter einzugehen. Den Hinweis darauf verdankt er E. Cassirer,
dessen eingehende Darstellung des Verhältnisses der Begriffe Freiheit und
Notwendigkeit im Zeitalter der Frührenaissance er demnächst in den
Studien d. Bibi. Warburg Bd. 10 herauszugeben die Ehre hat.