Politische Prozesse.
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Verstoß gegen die Lehnssitte spricht auch Hirsch1. Hingegen haben
sich Luchaire2, d’Arbois de Joubainxille3, K. Norgate4 für
die Annahme eines Versäumnisurteils ausgesprochen, und dafür
ließe sich anführen, daß wir weder über die Ladungsfristen des
französischen Hofgerichtes noch über die Rechtsauffassung unter-
richtet sind, die es in diesem konkreten Falle befolgte; möglicher-
weise sah man in der in aller Öffentlichkeit abgeschlossenen Ehe
Heinrichs ein derart offenkundiges Verhalten, daß man die Ein-
haltung der Regelfristen nicht für nötig erachtete. Jedenfalls
scheint der Ausdruck der Quelle selbst mehr für ein Versäumnis-
verfahren zu sprechen, da deficere a justicia geradezu der tech-
nische Ausdruck für prozessualen Ungehorsam genannt werden
muß5. Dies als richtig vorausgesetzt, so hätten wir hier den
ersten französischen Versäumnisprozeß nach Lehnrecht
gegen einen unbotmäßigen Vasallen; denn daß Anjou zu jener
Zeit bereits französisches Thronlehen war, mindestens seit Wil-
helm X., der Vater Heinrich Plantagenets, dem König von Frank-
reich die garde et mainbournie seiner beiden Töchter Marie und
Alix kommendiert hatte6, darf als feststehend betrachtet werden.
Es ist höchst bemerkenswert, daß dieser erste französische Lehns-
prozeß fast aufs Jahr genau mit den deutschen Weifenprozessen
zusammenfällt, in denen wir ebenfalls zum ersten Male die An-
wendung des reinen Lehnrechts beobachten konnten. Eine spätere
vergleichende Entwicklungsgeschichte des Lehnrechts wird an
dieser bedeutsamen Tatsache zweifellos nicht Vorbeigehen können.
Wohl nur Zufall ist der völlig gleiche Verlauf dieser Prozesse, die
beide 1156 in einen Vergleich ausmünden; hier wie dort behielt
der Beklagte seine Lehen, ja, Heinrich leistete 1156 noch weiterhin
Huldigung für die Normandie und die Bretagne7.
Die übrigen Prozesse aus der Regierungszeit Ludwigs VII.
bieten ein geringeres politisches als allgemein-juristisches Interesse8.
1 Richard Hirsch, Studien zur Geschichte König Ludwigs VII. von
Frankreich (Diss. Leipzig 1892, S. 82).
2 Bei Lavisse III, 1, p. 29, 30.
3 Histoire des ducs et des comtes de Champagne, Paris 1859ss., III, p. 31.
4 England under the Angevin Kings I., p. 393.
5 Vgl. vor allem die spätere Rechtssprache des Pariser Parlaments;
Olim I 596, 884, 886 usw.; Register s. u. defectus.
6 Vgl. J. Flach, Origines de l’ancienne France IV, 1917, p. 601.
7 S. unten S. 86 A. 4.
8 Vgl. die Urkunden bei Langlois, a. a. O., Nr. XIss.
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl. 1926/27. 3. Abh.
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Verstoß gegen die Lehnssitte spricht auch Hirsch1. Hingegen haben
sich Luchaire2, d’Arbois de Joubainxille3, K. Norgate4 für
die Annahme eines Versäumnisurteils ausgesprochen, und dafür
ließe sich anführen, daß wir weder über die Ladungsfristen des
französischen Hofgerichtes noch über die Rechtsauffassung unter-
richtet sind, die es in diesem konkreten Falle befolgte; möglicher-
weise sah man in der in aller Öffentlichkeit abgeschlossenen Ehe
Heinrichs ein derart offenkundiges Verhalten, daß man die Ein-
haltung der Regelfristen nicht für nötig erachtete. Jedenfalls
scheint der Ausdruck der Quelle selbst mehr für ein Versäumnis-
verfahren zu sprechen, da deficere a justicia geradezu der tech-
nische Ausdruck für prozessualen Ungehorsam genannt werden
muß5. Dies als richtig vorausgesetzt, so hätten wir hier den
ersten französischen Versäumnisprozeß nach Lehnrecht
gegen einen unbotmäßigen Vasallen; denn daß Anjou zu jener
Zeit bereits französisches Thronlehen war, mindestens seit Wil-
helm X., der Vater Heinrich Plantagenets, dem König von Frank-
reich die garde et mainbournie seiner beiden Töchter Marie und
Alix kommendiert hatte6, darf als feststehend betrachtet werden.
Es ist höchst bemerkenswert, daß dieser erste französische Lehns-
prozeß fast aufs Jahr genau mit den deutschen Weifenprozessen
zusammenfällt, in denen wir ebenfalls zum ersten Male die An-
wendung des reinen Lehnrechts beobachten konnten. Eine spätere
vergleichende Entwicklungsgeschichte des Lehnrechts wird an
dieser bedeutsamen Tatsache zweifellos nicht Vorbeigehen können.
Wohl nur Zufall ist der völlig gleiche Verlauf dieser Prozesse, die
beide 1156 in einen Vergleich ausmünden; hier wie dort behielt
der Beklagte seine Lehen, ja, Heinrich leistete 1156 noch weiterhin
Huldigung für die Normandie und die Bretagne7.
Die übrigen Prozesse aus der Regierungszeit Ludwigs VII.
bieten ein geringeres politisches als allgemein-juristisches Interesse8.
1 Richard Hirsch, Studien zur Geschichte König Ludwigs VII. von
Frankreich (Diss. Leipzig 1892, S. 82).
2 Bei Lavisse III, 1, p. 29, 30.
3 Histoire des ducs et des comtes de Champagne, Paris 1859ss., III, p. 31.
4 England under the Angevin Kings I., p. 393.
5 Vgl. vor allem die spätere Rechtssprache des Pariser Parlaments;
Olim I 596, 884, 886 usw.; Register s. u. defectus.
6 Vgl. J. Flach, Origines de l’ancienne France IV, 1917, p. 601.
7 S. unten S. 86 A. 4.
8 Vgl. die Urkunden bei Langlois, a. a. O., Nr. XIss.
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl. 1926/27. 3. Abh.
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