Studien zur Spätscholastik. III.
23
zu revolutionärer Konsequenz fortgebildet, indem Wessel das Recht
des Kirchenvolkes daraus ableitet, gottlosen Kirchenobrigkeiten,
die zerstören, statt aufbauen, zu widerstehen1.
Der zweite und längste der Briefe Wesels ist zum großen Teil
mit einer triumphierenden Polemik gegen mancherlei Ungeschick-
lichkeiten seines unbeholfenen Gegners gefüllt; sie interessieren
uns hier nur insofern, als sie der Anlaß werden zur Erörterung neuer
Gesichtspunkte oder doch zur näheren Erläuterung des früher
schon Vorgebrachten. So hören wir jetzt, daß der sensus literalis
für alle Bibelauslegung prima fronte Geltung hat — ähnlich wie es
einst auch Wiklif gelehrt hatte und wie es — in der Theorie wenig-
stens — Gemeingut der Scholastik von Nik. von Lyra bis Gerson
war2. Die potestas ligandi der Kirche wird insofern noch näher
bestimmt, als die eigentliche „gesetzgebende“ Jurisdiktion davon
ausgeschlossen sein soll; nur allzu oft hat die Kirche als Richterin
geirrt und gefehlt gegen Gottes Willen. Ihr bleibt nur die dienende
Handhabung und Predigt der lex divina, aus der alles kirchliche
Recht sich begründen muß3. Nicht die Sakramente der Kirche als
res create wirken Gottes Gnade, sondern Gott allein wirkt durch sie
als bloße Mittel4. Das Gesetz Gottes genügt vollkommen, die
Sünden zu- bezeichnen und zu ihrer Vermeidung anzuleiten; kein
Mensch, und somit auch kein Papst, hat das Recht, neue Sünden-
verbote aufzustellen; was Gott selbst nicht verboten hat, darf
niemand verbieten; denn nichts ist an sich selber Sünde, was nicht
durch Gottes Verbot zur Sünde gestempelt ist. Von hier aus fällt
nachträglich noch ein Streich gegen das (als Menschensatzung doch
vorher anerkannte) Zölibat der Priester: was Christus als bloßen
1 De sacr. poen. 769. Vgl. dazu unten B 6: ,,nullam potest instituere in
destructionem et damna membrorum“. ... als entfernten Anklang (zugrunde
liegt 2. Gor. 13,10.) — Zu beachten ist auch, daß Wesel im Einklang mit Wessel
Gansfort die Gleichstellung von Priester und Bischof gelehrt hat: Punkt 7 des
Katalogs seiner Häresien (Hist. Viertelj.schrift III, 522) = Punkt 16 des
Ketzerverhörs.
2 Kropatschek, a. a. O., 346. Derselbe hermeneutische Grundsatz breit
ausgeführt bei Goch, s. Clemen a. a. 0. 80ff. u. 187 ff. Wessel dagegen operiert
viel mit allegorischer Schriftdeutung. —Wenn W. im Ketzerverhör (Punkt 17)
bestreitet, daß irgend jemand das Recht habe exponendi verba Christi, so ist
wohl mit ,,exponerel‘ ein Abweichen vom Literalsinn gemeint.
3 Vgl. dazu Ketzerverhör Punkt 14.
4 Vgl. dazu Ablaßtraktat; Walch, Monim. I, 131, und Nik. Paulus,
Ztschr. f. kath. Theol. 24, 648.
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zu revolutionärer Konsequenz fortgebildet, indem Wessel das Recht
des Kirchenvolkes daraus ableitet, gottlosen Kirchenobrigkeiten,
die zerstören, statt aufbauen, zu widerstehen1.
Der zweite und längste der Briefe Wesels ist zum großen Teil
mit einer triumphierenden Polemik gegen mancherlei Ungeschick-
lichkeiten seines unbeholfenen Gegners gefüllt; sie interessieren
uns hier nur insofern, als sie der Anlaß werden zur Erörterung neuer
Gesichtspunkte oder doch zur näheren Erläuterung des früher
schon Vorgebrachten. So hören wir jetzt, daß der sensus literalis
für alle Bibelauslegung prima fronte Geltung hat — ähnlich wie es
einst auch Wiklif gelehrt hatte und wie es — in der Theorie wenig-
stens — Gemeingut der Scholastik von Nik. von Lyra bis Gerson
war2. Die potestas ligandi der Kirche wird insofern noch näher
bestimmt, als die eigentliche „gesetzgebende“ Jurisdiktion davon
ausgeschlossen sein soll; nur allzu oft hat die Kirche als Richterin
geirrt und gefehlt gegen Gottes Willen. Ihr bleibt nur die dienende
Handhabung und Predigt der lex divina, aus der alles kirchliche
Recht sich begründen muß3. Nicht die Sakramente der Kirche als
res create wirken Gottes Gnade, sondern Gott allein wirkt durch sie
als bloße Mittel4. Das Gesetz Gottes genügt vollkommen, die
Sünden zu- bezeichnen und zu ihrer Vermeidung anzuleiten; kein
Mensch, und somit auch kein Papst, hat das Recht, neue Sünden-
verbote aufzustellen; was Gott selbst nicht verboten hat, darf
niemand verbieten; denn nichts ist an sich selber Sünde, was nicht
durch Gottes Verbot zur Sünde gestempelt ist. Von hier aus fällt
nachträglich noch ein Streich gegen das (als Menschensatzung doch
vorher anerkannte) Zölibat der Priester: was Christus als bloßen
1 De sacr. poen. 769. Vgl. dazu unten B 6: ,,nullam potest instituere in
destructionem et damna membrorum“. ... als entfernten Anklang (zugrunde
liegt 2. Gor. 13,10.) — Zu beachten ist auch, daß Wesel im Einklang mit Wessel
Gansfort die Gleichstellung von Priester und Bischof gelehrt hat: Punkt 7 des
Katalogs seiner Häresien (Hist. Viertelj.schrift III, 522) = Punkt 16 des
Ketzerverhörs.
2 Kropatschek, a. a. O., 346. Derselbe hermeneutische Grundsatz breit
ausgeführt bei Goch, s. Clemen a. a. 0. 80ff. u. 187 ff. Wessel dagegen operiert
viel mit allegorischer Schriftdeutung. —Wenn W. im Ketzerverhör (Punkt 17)
bestreitet, daß irgend jemand das Recht habe exponendi verba Christi, so ist
wohl mit ,,exponerel‘ ein Abweichen vom Literalsinn gemeint.
3 Vgl. dazu Ketzerverhör Punkt 14.
4 Vgl. dazu Ablaßtraktat; Walch, Monim. I, 131, und Nik. Paulus,
Ztschr. f. kath. Theol. 24, 648.