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Ernst Lohmeyer:
nur im allgemeinen für das Urchristentum fest, das ja einer aramäi-
schen Sprachwelt entstammt, sondern ist hier noch besonders da-
durch gesichert, daß das ganze Gedicht nicht von Paulus geschaffen,
sondern übernommen ist. Aramäisch lautet die Wendung: kebar-
nasch „wie ein Menschensohn“. Bar-nasch trägt bekanntlich eine
Zweideutigkeit an sich1. Er bezeichnet ebenso jedes menschliche
Lebewesen wie den einen nicht-menschlichen göttlichen Gesandten.
Diese Zweideutigkeit zu beseitigen dient das Wörtchen ke. Es-
sagt, daß der Träger dieser Bezeichnung dieser Mensch ist und zu-
gleich ein anderer, daß in seiner Erscheinung ein Göttliches verbor-
gen ist. Deshalb sprechen die danielischen Visionen, die Henoch-
bücher, die Apokalypse Esra immer von sicut homo, wo sie den
eschatologischen Erlöser bezeichnen, und meinen damit nicht eine
geschichtliche, sondern eine transzendente Gestalt, die am Ende
nur deshalb kommen wird, weil sie am Anfang und immerdar war.
Das genaue Äquivalent dieses aramäischen religiösen Titels ist
oic, av9-pco7LO(;2. Und es steht nicht allein in der urchristlichen Über-
lieferung da. Die Apok. Joh. nennt Christus, sprachlich noch enger
an das aramäische Original angelehnt: 6[ioioc, uloc, avüpco-ou
(1, 13. 14, 14). Die Evangelien meiden wohl das scheinbar ver-
hüllende, in Wirklichkeit eindeutig den Gottgesandten bezeichnende
Wörtchen ke. Der Grund ist klar; denn für sie verschwebt der
Name nicht mehr in apokalyptischer Hoffnung, sondern bezeichnet
eindeutig eine konkrete menschliche Gestalt, eben Jesus von Naza-
reth. Es ist die überwältigende Macht des geschichtlichen Lebens
Jesu, die diese sprachliche Änderung bewirkt hat; oder genauer:
Durch sein geschichtliches Werk und Dasein ist die Möglichkeit
gegeben, nicht nur von dem sicut homo, sondern auch dem ecce
homo zu sprechen.
Hält man diese Bedeutung fest3, so lösen sich alle Schwierig-
keiten der ersten beiden Zeilen. Nicht nur ist supsbsü sprachlich
einwandfrei konstruiert, auch begreift sich nicht nur, warum eine
1 Vgl. zum Sprachlichen zuletzt O. Procksch, Der Menschensohn als
Gottessohn (Christentum und Wissenschaft 1927, 425ff.).
2 Daß Paulus den Titel Menschensohn gekannt hat, ist wohl auch nach
I. Kor. 15, 45f. sicher; vgl. darüber zuletzt Clemen, Rel.-gesch. Erklärung
des NT2, 69.
3 Ähnlich schon Grotius z. St.: A; avü-pcoTCO? keaclam tanquam Adam,
qui 6 -rupcoToc; äv-9'püuroi;. Dignitate talis apparuit qualis Adam, id est dominio
in omnes creaturas, in mare, ventos, panes, aquam.
Ernst Lohmeyer:
nur im allgemeinen für das Urchristentum fest, das ja einer aramäi-
schen Sprachwelt entstammt, sondern ist hier noch besonders da-
durch gesichert, daß das ganze Gedicht nicht von Paulus geschaffen,
sondern übernommen ist. Aramäisch lautet die Wendung: kebar-
nasch „wie ein Menschensohn“. Bar-nasch trägt bekanntlich eine
Zweideutigkeit an sich1. Er bezeichnet ebenso jedes menschliche
Lebewesen wie den einen nicht-menschlichen göttlichen Gesandten.
Diese Zweideutigkeit zu beseitigen dient das Wörtchen ke. Es-
sagt, daß der Träger dieser Bezeichnung dieser Mensch ist und zu-
gleich ein anderer, daß in seiner Erscheinung ein Göttliches verbor-
gen ist. Deshalb sprechen die danielischen Visionen, die Henoch-
bücher, die Apokalypse Esra immer von sicut homo, wo sie den
eschatologischen Erlöser bezeichnen, und meinen damit nicht eine
geschichtliche, sondern eine transzendente Gestalt, die am Ende
nur deshalb kommen wird, weil sie am Anfang und immerdar war.
Das genaue Äquivalent dieses aramäischen religiösen Titels ist
oic, av9-pco7LO(;2. Und es steht nicht allein in der urchristlichen Über-
lieferung da. Die Apok. Joh. nennt Christus, sprachlich noch enger
an das aramäische Original angelehnt: 6[ioioc, uloc, avüpco-ou
(1, 13. 14, 14). Die Evangelien meiden wohl das scheinbar ver-
hüllende, in Wirklichkeit eindeutig den Gottgesandten bezeichnende
Wörtchen ke. Der Grund ist klar; denn für sie verschwebt der
Name nicht mehr in apokalyptischer Hoffnung, sondern bezeichnet
eindeutig eine konkrete menschliche Gestalt, eben Jesus von Naza-
reth. Es ist die überwältigende Macht des geschichtlichen Lebens
Jesu, die diese sprachliche Änderung bewirkt hat; oder genauer:
Durch sein geschichtliches Werk und Dasein ist die Möglichkeit
gegeben, nicht nur von dem sicut homo, sondern auch dem ecce
homo zu sprechen.
Hält man diese Bedeutung fest3, so lösen sich alle Schwierig-
keiten der ersten beiden Zeilen. Nicht nur ist supsbsü sprachlich
einwandfrei konstruiert, auch begreift sich nicht nur, warum eine
1 Vgl. zum Sprachlichen zuletzt O. Procksch, Der Menschensohn als
Gottessohn (Christentum und Wissenschaft 1927, 425ff.).
2 Daß Paulus den Titel Menschensohn gekannt hat, ist wohl auch nach
I. Kor. 15, 45f. sicher; vgl. darüber zuletzt Clemen, Rel.-gesch. Erklärung
des NT2, 69.
3 Ähnlich schon Grotius z. St.: A; avü-pcoTCO? keaclam tanquam Adam,
qui 6 -rupcoToc; äv-9'püuroi;. Dignitate talis apparuit qualis Adam, id est dominio
in omnes creaturas, in mare, ventos, panes, aquam.