Cusanus-Texte. I. „Dies Sanctificatus“.
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Zu Weg und Wahrheit tritt in der Gedankenwelt Platons die
Idee des „Lebens“. Bei Platon ist die οδός zur μέθοδος geworden,
wobei die sinnbildliche Bedeutung noch durchaus erhalten ist (z. B.
Respubl. VII 533c); ja der Weg ist im Höhlengleichnis zu dem-
jenigen Symbol geworden, auf welchem der ganze Gedanke einer
methodischen Erziehung durch Wissenschaft ruht. Und nicht
weniger charakteristisch als der Begriff der Methodos ist für Platon
sein Wahrheitsbegriff, weshalb die christlichen Väter von Clemens
an mit gutem Recht gerade Platon mit dem Namen eines Phila-
lethes ausgezeichnet haben: Platon kennt keine Wahrheit außer
als Korrelat zum wirklichen Sein, wie es für ihn beschlossen liegt
in der pluralistischen Sphäre der reinen Formen; und wohl nicht
zufällig erscheint auch späterhin gerade bei Platonikern die Wahr-
heit personifiziert. Aber zu der das Ideenfeld (πεδίον) durch-
waltenden Wahrheit und zu dem auf sie hinführenden rauhen Wege
aufwärts kommt bei Platon in noch höherer Sphäre die besondere
Idee des Lebens (Phaed. 106d), deren Zusammenhang oder Iden-
tität mit der Idee des Guten und sonach mit Platons Gott besonders
den frühchristlichen Interpreten von Wichtigkeit sein mußte, sagt
doch Platon selbst ebenda 6 θεός καί, τό τής ζωής είδος.
Durch welche Traditionen Weg, Wahrheit, Leben zu einer
festen Trias geworden sind, die schließlich ein Gefäß abgeben
konnte, wohinein das Johannesevangelium Kap. 14 V. 6 ganz
neuen Wein zu gießen vermochte, ist für uns heute noch so wenig
verfolgbar, wie die gesamte Filiation der Piatonismen in helleni-
stischer Zeit; genug, daß mit dem Gefäß in prägnantester Weise
eine Begriffsdreiheit dem christlichen Denken zuströmte, die für
Cusanus geradezu den Anfang seiner philosophischen Ahnenreihe
vertrat. Er wird, als er das Konzept seiner Predigt entwarf, kaum
solchen Erwägungen nachgegangen sein; ein um so kräftigeres
Zeugnis für die Einheit seines Denkens ist es, daß sein religiöses
Motto1 auch die philosophiegeschichtliche Interpretation verträgt.
Voran muß Heraklit gestellt werden, der erste, der den Ge-
danken der Coincidentia oppositorum gedacht hat. Mag Heraklit
dies Prinzip verwenden, um das Weltgeschehen zu deuten, Cusanus
aber, um das Absolute tmematisch vom Weltgeschehen abzuheben,
1 Wie eng der Zusammenhang zwischen Philosophieren und Predigen
bei Cusanus ist, zeigt ein Vergleich zwischen unserem Predigttext und De
Visione Dei Kap.l9ff., wo auch das gleiche von Cusanus überhaupt bevor-
zugte Motto in betonter Weise wiederkehrt.
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Zu Weg und Wahrheit tritt in der Gedankenwelt Platons die
Idee des „Lebens“. Bei Platon ist die οδός zur μέθοδος geworden,
wobei die sinnbildliche Bedeutung noch durchaus erhalten ist (z. B.
Respubl. VII 533c); ja der Weg ist im Höhlengleichnis zu dem-
jenigen Symbol geworden, auf welchem der ganze Gedanke einer
methodischen Erziehung durch Wissenschaft ruht. Und nicht
weniger charakteristisch als der Begriff der Methodos ist für Platon
sein Wahrheitsbegriff, weshalb die christlichen Väter von Clemens
an mit gutem Recht gerade Platon mit dem Namen eines Phila-
lethes ausgezeichnet haben: Platon kennt keine Wahrheit außer
als Korrelat zum wirklichen Sein, wie es für ihn beschlossen liegt
in der pluralistischen Sphäre der reinen Formen; und wohl nicht
zufällig erscheint auch späterhin gerade bei Platonikern die Wahr-
heit personifiziert. Aber zu der das Ideenfeld (πεδίον) durch-
waltenden Wahrheit und zu dem auf sie hinführenden rauhen Wege
aufwärts kommt bei Platon in noch höherer Sphäre die besondere
Idee des Lebens (Phaed. 106d), deren Zusammenhang oder Iden-
tität mit der Idee des Guten und sonach mit Platons Gott besonders
den frühchristlichen Interpreten von Wichtigkeit sein mußte, sagt
doch Platon selbst ebenda 6 θεός καί, τό τής ζωής είδος.
Durch welche Traditionen Weg, Wahrheit, Leben zu einer
festen Trias geworden sind, die schließlich ein Gefäß abgeben
konnte, wohinein das Johannesevangelium Kap. 14 V. 6 ganz
neuen Wein zu gießen vermochte, ist für uns heute noch so wenig
verfolgbar, wie die gesamte Filiation der Piatonismen in helleni-
stischer Zeit; genug, daß mit dem Gefäß in prägnantester Weise
eine Begriffsdreiheit dem christlichen Denken zuströmte, die für
Cusanus geradezu den Anfang seiner philosophischen Ahnenreihe
vertrat. Er wird, als er das Konzept seiner Predigt entwarf, kaum
solchen Erwägungen nachgegangen sein; ein um so kräftigeres
Zeugnis für die Einheit seines Denkens ist es, daß sein religiöses
Motto1 auch die philosophiegeschichtliche Interpretation verträgt.
Voran muß Heraklit gestellt werden, der erste, der den Ge-
danken der Coincidentia oppositorum gedacht hat. Mag Heraklit
dies Prinzip verwenden, um das Weltgeschehen zu deuten, Cusanus
aber, um das Absolute tmematisch vom Weltgeschehen abzuheben,
1 Wie eng der Zusammenhang zwischen Philosophieren und Predigen
bei Cusanus ist, zeigt ein Vergleich zwischen unserem Predigttext und De
Visione Dei Kap.l9ff., wo auch das gleiche von Cusanus überhaupt bevor-
zugte Motto in betonter Weise wiederkehrt.