Cusanus-Studien: I. Das Universum des Nikolaus von Cues.
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Die Lehrstücke, die ich vorgetragen habe, scheint Cusanus
selber für im Sinne Platons angelegt gehalten zu haben: Das Ab-
solute, in welchem die Gegensätze koinzidieren, ist für ihn die Stätte
der wahren 'Idee5; das Problem der Complicatio und Explicatio
fällt für ihn zusammen mit dem Problem der Methexis; die Con-
cordantia alles Individuellen ist für ihn Platons Verhältnis des
Einen zum Vielen, illustriert am Spiegelgleichnis. So hat es denn
besonderes Gewicht, wenn Cusanus einmal von Platon sagt, dieser
habe mehr gesehen als andere Philosophen1. Aber sein Platonismus
geht noch weiter.
Fragen wir uns, was Platon zu dem Aristotelisch-Thomistischen
Bilde vom Weltganzen als einer kontinuierlichen Stufung von Ente-
lechien gesagt haben würde, so kann wohl die Antwort nur lauten:
Platon erkennt keine Leiter mit unendlich vielen Sprossen an,
sondern er hat zwei Welten und die Methexis der einen an der
anderen. Das Prinzipielle ist also: statt einer sehr großen Zahl
von Zwischengliedern Ein einziger Begriff der Synthesis.
Nun ist das Absehen der Platonischen Philosophie bekanntlich
darauf gerichtet, diesem einen einzigen Begriff der Synthesis auch
plastischen Ausdruck zu geben. Die Methexis wäre nicht, wenn das
Endliche nicht 'Sehnsucht5 hätte, zum Ewigen sich zu erheben.
Die Sehnsucht der endlichen Wesen, mag sie sich äußern wie sie
will, sie ist immer Sehnsucht nach Ergänzung, nach Vervollkomm-
nung und damit nach Vergöttlichung. Die Methexis muß ein Ve-
hikel, muß einen Träger haben, er heißt Eros: Liebesclrang zum
Absoluten, suchender Dämon, der aufwärts strebt.
Oder der Träger heißt Psyche. Unsere Seele, mit den sinnlichen
Trieben ganz im Irdischen verwurzelt, mit den geistigen Funktionen
aber auf Ideelles und Überirdisches gerichtet, sie ist geradezu Ver-
körperung des Methexis-Begriffs. Alle Erziehung der Seele ist ein
Ziehen zur Methexis hin; aller Fortschritt der Seele zum Geistigen
ist sozusagen realisierte Methexis. Seele ist Sehnsucht, Psyche ist
Eros, beide sind Symbole der Teilhabe. — Ja das, was die Menschen
1 Und zwar in dem für Cusanus wichtigsten Problem: Vides nunc vena-
tores philosophos, qui nisi sunt rerum quidditates (ignorata quidditate Dei)
venari, et qui Dei quidditatem semper scibilem facere scitam nisi sunt, fecisse
Jabores inutiles, quoniam campum doctae ignorantiae non intrarunt. Solus
autem Plato aliquid plus aliis philosophis videns dicebat se mirari, si Deus
inveniri, et plus mirari, si inventus posset propalari. (De venat. sap. 12.) Cu-
sanus meint hier Epist. VII 341 cd.
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., phil.-hist. Kl. 1929/30. 3. Abh.
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Die Lehrstücke, die ich vorgetragen habe, scheint Cusanus
selber für im Sinne Platons angelegt gehalten zu haben: Das Ab-
solute, in welchem die Gegensätze koinzidieren, ist für ihn die Stätte
der wahren 'Idee5; das Problem der Complicatio und Explicatio
fällt für ihn zusammen mit dem Problem der Methexis; die Con-
cordantia alles Individuellen ist für ihn Platons Verhältnis des
Einen zum Vielen, illustriert am Spiegelgleichnis. So hat es denn
besonderes Gewicht, wenn Cusanus einmal von Platon sagt, dieser
habe mehr gesehen als andere Philosophen1. Aber sein Platonismus
geht noch weiter.
Fragen wir uns, was Platon zu dem Aristotelisch-Thomistischen
Bilde vom Weltganzen als einer kontinuierlichen Stufung von Ente-
lechien gesagt haben würde, so kann wohl die Antwort nur lauten:
Platon erkennt keine Leiter mit unendlich vielen Sprossen an,
sondern er hat zwei Welten und die Methexis der einen an der
anderen. Das Prinzipielle ist also: statt einer sehr großen Zahl
von Zwischengliedern Ein einziger Begriff der Synthesis.
Nun ist das Absehen der Platonischen Philosophie bekanntlich
darauf gerichtet, diesem einen einzigen Begriff der Synthesis auch
plastischen Ausdruck zu geben. Die Methexis wäre nicht, wenn das
Endliche nicht 'Sehnsucht5 hätte, zum Ewigen sich zu erheben.
Die Sehnsucht der endlichen Wesen, mag sie sich äußern wie sie
will, sie ist immer Sehnsucht nach Ergänzung, nach Vervollkomm-
nung und damit nach Vergöttlichung. Die Methexis muß ein Ve-
hikel, muß einen Träger haben, er heißt Eros: Liebesclrang zum
Absoluten, suchender Dämon, der aufwärts strebt.
Oder der Träger heißt Psyche. Unsere Seele, mit den sinnlichen
Trieben ganz im Irdischen verwurzelt, mit den geistigen Funktionen
aber auf Ideelles und Überirdisches gerichtet, sie ist geradezu Ver-
körperung des Methexis-Begriffs. Alle Erziehung der Seele ist ein
Ziehen zur Methexis hin; aller Fortschritt der Seele zum Geistigen
ist sozusagen realisierte Methexis. Seele ist Sehnsucht, Psyche ist
Eros, beide sind Symbole der Teilhabe. — Ja das, was die Menschen
1 Und zwar in dem für Cusanus wichtigsten Problem: Vides nunc vena-
tores philosophos, qui nisi sunt rerum quidditates (ignorata quidditate Dei)
venari, et qui Dei quidditatem semper scibilem facere scitam nisi sunt, fecisse
Jabores inutiles, quoniam campum doctae ignorantiae non intrarunt. Solus
autem Plato aliquid plus aliis philosophis videns dicebat se mirari, si Deus
inveniri, et plus mirari, si inventus posset propalari. (De venat. sap. 12.) Cu-
sanus meint hier Epist. VII 341 cd.
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., phil.-hist. Kl. 1929/30. 3. Abh.
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