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Rickert, Heinrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1930/31, 1. Abhandlung): Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie — Heidelberg, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.40152#0116
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Erster logischer Teil.

Anschauung, mag sie noch so „offenbar“ und ,,ent-deckt“ sein,
liegt noch völlig außerhalb der theoretischen Sphäre der Wahrheit.
Es muß zu ihr stets noch etwas hinzutreten, was Wahrheit über sie
gibt. Hält man daran nicht fest, so bringt man in der Logik alles in
Verwirrung oder spielt mit vieldeutigen Worten, was in diesem
Falle nicht schwer ist, da ja schon das griechische Wort „Theoria“
mit „sehen“ zusammenhängt, und man auch sonst geneigt sein
wird, für das Erkennen Bilder zu brauchen, die sich auf die
Funktionen unseres Auges beziehen. Um so mehr muß man daran
festhalten, daß es sich bei diesem Sprachgebrauch nur um Bilder
handelt. So wie „kennen“ noch kein „erkennen“ ist, so ist auch
anschauliches „sehen“ noch kein logisches „einsehen“.
Wir haben uns früher davon überzeugt, weshalb es, logisch
betrachtet, keine prädikatslose Wahrheit gibt, auch dort nicht,
wo sprachlich ein Prädikat fehlt. Wir können jetzt hinzufügen,
daß es logisch ebensowenig eine Wahrheit ohne Form und ohne
Begriff gibt, d. h. ohne solche Faktoren, die als etwas Unanschau-
liches zur Anschauung hinzutreten müssen, um das Angeschaute
in die theoretische Sphäre zu bringen. Das Ideal einer nur intui-
tiven Erkenntnis ist eine haltlose „Konstruktion“, die vor jeder
ernsthaften logischen Analyse der durch Sätze zum Ausdruck ge-
brachten wahren Sinngebilde zusammenbricht, und die gerade von
denjenigen sorgfältig gemieden werden sollte, die zugunsten der
Anschauung gegen „Konstruktionen“ kämpfen. Eine nur an-
schauliche Wahrheit hat noch niemand „geschaut“. Von ihr
sollte er daher, gerade wenn er auf Anschauung Wert legt, auch
nicht reden.
Wir wissen selbstverständlich, daß wir mit allen diesen Aus-
führungen nichts „Neues“ sagen, aber weil die ihnen zugrunde
liegende logische Wahrheit immer wieder irgendwelchen Dogmen
zuliebe bestritten wird, müssen wir in einer Logik des Prädikats
ausführlich von ihr sprechen.
Wir wissen selbstverständlich ebenso, daß wir zu jedem Er-
kennen auch Anschauung brauchen. Das hat schon Kant gewußt
und unübertrefflich zum Ausdruck gebracht. Der erste Teil seines
berühmten Satzes lautet: „Gedanken ohne Inhalt sind leer“. Da-
mit ist, wie die Fortsetzung zeigt, anschaulicher Inhalt gemeint.
Ohne ihn bewegen wir uns in „leeren“ Formen. Kant hätte auch
sagen können: Gedanken oder Begriffe ohne Anschauungen sind
leer. Doch Kant wußte ebenso genau, daß darin nur die eine
 
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